Dienstag, 16. April 2024

Archiv

Nesthocker und Boomerang-Kids
"Jeder Schritt in die Selbstständigkeit ist gut"

Abiturienten seien heute jünger als früher, sagte die Autorin Ulrike Bartholomäus im Dlf. Häufig seien sie aber auch unreifer und unselbständiger als frühere Gleichaltrige. Eine Orientierungsphase nach dem Abitur könne sinnvoll sein, um herauszufinden: "Was will ich eigentlich im Leben machen".

Ulrike Bartholomäus im Gespräch mit Sandra Pfister | 12.07.2019
Zwei Studenten stehen vor einem Schwarzen Brett mit vielen Zetteln.
62 Prozent der jungen Erwachsenen heutzutage wohnen noch zu Hause (dpa / Matthias Balk)
Sandra Pfister: Wohnen ist teuer, das trifft ganz besonders auch Studierende. Der Landtag in Nordrhein-Westfalen hat gerade wieder über Wohnzuschüsse diskutiert. Jetzt beginnt nämlich wieder der Run auf Studentenbuden. Die sind oft weniger hübsch, aber garantiert teuer. Kein Wunder, dass fast zwei Drittel aller jungen Leute sagen, da bleibe ich doch zu Hause wohnen. Ulrike Bartholomäus hat gerade ein Buch geschrieben über das Massenphänomen des Nesthockens. Frau Bartholomäus, mehr als 60 Prozent der 18- bis 24-Jährigen, haben Sie recherchiert, wohnen bei Mama und Papa entweder noch oder schon wieder. Angesichts dieser teuren Mieten, ist das doch mehr als verständlich, oder?
Ulrike Bartholomäus: Das ist richtig, aber es ist so, dass dieses Phänomen nicht neu ist, sondern schon seit zehn Jahren existiert, und da waren die Mieten ja noch dramatisch viel billiger. Das hat eine Vielzahl von Gründen, warum jugendliche Heranwachsende lieber zu Hause im Hotel Mama wohnen wollen, und vor allen Dingen ist es auch die Bequemlichkeit, und ganz entscheidend ist, es gibt heute ein eher freundschaftliches Verhältnis zu den Eltern. Die einen und die anderen und diese Konflikte, die haben nach und nach abgenommen, und da sagen einige auch ganz klar, wieso, hier spare ich Geld, wenn ich in der Ausbildung bin, habe ich mehr übrig, oder wenn ich Student bin, dann ist vielleicht für mich mehr in der Kasse.
Pfister: Hört sich ja erst mal nach einer pragmatischen Sache an und auch nach einer schönen Sache, die verstehen sich mit ihren Eltern, aber man hört schon raus, so ganz einverstanden sind Sie damit nicht.
Bartholomäus: Na ja, in dieser Übergangszeit von Erwachsenwerden und Erwachsensein ist es ein ganz wichtiger Entwicklungsschritt, selbstständig zu sein, und zu der Selbstständigkeit gehört auch auszuziehen und sich etwas eigenes zu suchen und dann seinen eigenen Hausstand zu führen und zu gucken, wie schaffe ich das mit dem Papierkram, und wo melde ich mich um, und wie finde ich eine Wohnung, wie finde ich eine WG.
Abiturienten heute deutlich jünger
Pfister: Die wachsen behütet auf, die jungen Leute. Man kann auch sagen, haben die Eltern sie zu sehr gepampert?
Bartholomäus: Na ja, der Titel meines Buches lautet ja "Wozu nach den Sternen greifen, wenn man auch chillen kann". Das ist natürlich ironisch gemeint, aber in dem Chillen steckt schon so ein bisschen: ich bleibe zu Hause, es ist schön, ich werde gepampert. Ein Teil ist sicher das Helikoptertum der Eltern, die sich auch erst daran gewöhnen müssen, dass die Kinder mit 18, 19 dann selbstständig sind, dass sie ausziehen. Eine andere Sache ist aber auch, dass nach dem Abitur heute die Jugendlichen ja auch deutlich jünger sind. Es war früher für die Jungs normal, Wehrdienst oder Zivildienst zu machen, das waren schon mal ein, zwei Jahre. Dann kam noch ein weiteres Schuljahr hinzu. Das ist ja inzwischen wieder auf dem Rückweg, dass man sagt, 13 Jahre Schule ist doch irgendwo sinnvoller, weil mit unreifen Kindern kann man nicht sagen, ihr müsst jetzt schneller reifen, das ist ja kein Willensprozess, sondern das ist ein biologischer Prozess, und die Reifung dauert nun mal sehr lange. Die dauert auch nicht nur bis 18, sondern eigentlich braucht das jugendliche Gehirn bis 25, bis man eigentlich soweit ist.
Pfister: Da würden Ihnen viele ältere Semester entgegenhalten, na, aber früher hatten wir nicht so viel Zeit zu reifen, bis wir 25 oder 30 sind, da mussten wir einfach mal pragmatisch eine Arbeit finden oder unser Studium zu Ende bringen.
Bartholomäus: Das ist richtig. Das gilt insbesondere natürlich auch für die Ausbildungsberufe, da war es eigentlich normal, mit 16 zu starten, aber die Jugendlichen waren damals auch reifer, sie waren weniger behütet. Ein 16-Jähriger, ein 18-Jähriger ist heute unreifer als noch, sagen wir, vor 30 Jahren.
"Jeder hat einen Triggerpunkt"
Pfister: Sehen Sie das denn als gegeben an, so hört es sich fast an, oder ist das ein Appell an die Eltern, zu sagen, kickt die raus, gibt denen mehr Selbstständigkeit, fordert denen mehr ab?
Bartholomäus: Ich sage einfach nur, überlegt euch, welches sind eigentlich die Bedingungen, unter denen die Jugendlichen aufwachsen, gibt es ein Boutique-Hotel zu Hause, wo Kinder mit einem Null-Euro-Voucher die ganze Zeit wohnen, helfen sie mit, was sind die Aufgaben, was sind die Pflichten, wie weit ist es denn mit der Selbstständigkeit, gibt es einen Wäscheservice und so etwas. Ich sage, jeder Schritt in die Selbstständigkeit ist gut. Natürlich gibt es diese sehr Selbstständigen, aber es ist schon auffällig, wenn 62 Prozent der 17- bis 24-Jährigen noch zu Hause wohnen, dass sie eben sehr, sehr lange zu Hause auch verharren.
Pfister: Sie haben leicht reden, Sie haben eine Tochter, die früh von zu Hause ausziehen wollte, die direkt nach dem Abi gesagt hat, ich mache eine Lehre. Insofern haben Sie leicht reden. Gehen Sie mit den anderen da ein bisschen hart um?
Bartholomäus: Na ja, so leicht war das, ehrlicherweise nicht. Sie hatte ja auch erst vor, nach der Schule ein Jahr gar nichts zu machen. Was sie wirklich wollte, ist ausziehen. Es ist ja bei jedem anders. Der eine will unbedingt ausziehen, der andere will unbedingt ins Ausland, jeder hat einen Triggerpunkt, wo er sagt, das möchte ich erreichen, und da können Eltern ansetzen und sagen, okay, wenn du sozusagen bestimmte Schritte machst in dieser Übergangszeit, dann helfen wir auch, das zu erreichen, was dein Ziel ist.
Pfister: Denn das Gegenteil von den Boomerangkindern und von denen, die gar nicht erst ausziehen, sind ja die Abiturienten, das ist ja auch ein beträchtlicher Teil der Jahrgänge, die ins Ausland gehen oder Work-and-Travel machen. Haben deren Eltern ihren Kindern dann genug Freiheiten gelassen und sie eben nicht unselbstständig gehalten?
Bartholomäus: Also es sind ja 42 Prozent, da geht es hauptsächlich darum, dass sie nicht wissen, was sie machen wollen. Das ist eine Orientierungsphase, die manchmal auch in eine Orientierungslosigkeit führen kann, je nachdem, wie lange so ein Prozess geht, und ich halte sehr viel davon, Auszeiten zu nehmen und nicht irgendwas überstürzt anzufangen, nur ums Verrecken, sage ich jetzt mal, irgendein Studium anzufangen, was man dann wiederum abbricht. Ich halte das für eine gute Idee, wenn die Voraussetzung wäre für so eine Reise ins Ausland zum Beispiel, es selbst zu organisieren, auch einen Großteil selbst zu finanzieren und einfach Erfahrungen zu sammeln, Selbstständigkeit zu üben und Selbstwirksamkeit – ich tue etwas, ich schaffe das – und dann ins sich hineinzuhören und zu sagen, was will ich eigentlich im Leben machen.
Reifung dauert bis 25
Pfister: Dann gibt es ja keine Studien, meines Wissens nach, was langfristig die bessere Strategie ist: den Kindern alles abzunehmen und ihnen den Weg zu bahnen und zu erleichtern und zu helikoptern oder sie zu größerer Selbstständigkeit zu zwingen, indem man manchmal auch sagt, so, und das machst du jetzt bitte alleine, und jetzt könntest du auch mal ausziehen. Ist das wirklich so klar, dass diese Selbstständigkeit, die Eltern ihren Kindern abfordern sollten, zu größeren Erfolgen führt?
Bartholomäus: Das ist richtig, diese Gruppe ist sehr wenig erforscht. Man weiß sehr viel über die Pubertät bis 18 Jahre. Da ist sehr viel publiziert worden, aber diese Phase von 18 bis 25 ist so eine Art schwarzes Loch. Es ging los mit der Hirnforschung, die haben angefangen Jay Giedd da zum Beispiel in Amerika, der hat diese jugendlichen Gehirne in einen Scanner gesteckt und festgestellt, aha, tatsächlich dauert die Reifung bis 25, und diese Studie, was Sie sagen, die würde mich persönlich auch sehr interessieren, aber es ist auch klar, es gibt natürlich ein paar Mechanismen, die erforscht sind, unter anderem diese Selbstwirksamkeit. Wenn immer jemand dabei ist und mitgewirkt hat, können sie diese Leistung nicht auf sich beziehen, und dann wächst das Selbst langsamer.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.