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Netz-Hetze
Wie uns Shitstorms das Leben zur Hölle machen

Shitstorm und Online-Pranger: Der britische Journalist Jon Ronson beklagt in seinem neuen Buch blindes Mitläufertum im Netz. Das Hetzen aus der Ferne habe die Neigung zu öffentlichen Demütigungen wiederbelebt: "Auf Twitter treffen wir unsere eigenen Entscheidungen darüber, wer Vernichtung verdient hat."

Von Christoph Sterz | 28.11.2016
    Facebook-Symbole wie die Abkürzung 'f' und der gesenkte Daumen für "dislike" auf blauem Grund und darüber steht Hass gesprüht, wobei der Buchstabe 'a' in Hass aus dem At-Zeichen besteht.
    Facebook steht besonders im Zentrum der Debatten um Hass-Kommentare im Netz. (Imago / Ralph Peters)
    Ein einzelner Tweet, also eine einzige Twitter-Nachricht kann dazu führen, dass das eigene Leben fortan ein anderes ist. Bei der US-Amerikanerin Justine Sacco ist es dieser Tweet, der alles verändert:
    "Auf dem Weg nach Afrika. Ich hoffe, ich hole mir kein AIDS. Nur ein Scherz. Ich bin ja weiß!"
    Was Justine Sacco da Ende 2013 unbedacht auf Twitter veröffentlicht, kostet sie am Ende ihren Job als PR-Managerin - und bringt ihr sehr viel Aufmerksamkeit. Sie wird kritisiert, beleidigt, bedroht.
    Und sie ist eines der Beispiele, die der britische Bestseller-Autor Jon Ronson anführt, um zu zeigen, dass da etwas gewaltig schief läuft im Netz:
    "Wir befinden uns in einer Zeit, in der die Jagd begonnen hat, auf die beschämenden Geheimnisse von anderen Menschen. Sie können ein gutes, ethisch korrektes Leben führen. Aber eine unglückliche Formulierung in einem einzelnen Tweet kann das alles überstrahlen, kann der Schlüssel sein zum Bösen, zum inneren Teufel, der in ihnen steckt."
    Was Ronson da in seinem Vortrag von TEDGlobal London sagt, bedeutet im Fall von Justine Sacco, dass aus einer unbekannten PR-Managerin jemand wird, den jeder hassen kann. Ronson nutzt dieses konkrete Beispiel in seinem Buch, um klarzumachen, was sich in den sozialen Medien verschoben hat:
    "Auf Twitter treffen wir unsere eigenen Entscheidungen darüber, wer Vernichtung verdient hat. Wir finden einen eigenen Konsens und lassen uns dabei nicht von einem Justizsystem oder den Medien beeinflussen. Deshalb sind wir so respekteinflößend."
    Renaissance der öffentlichen Demütigungen
    Ronson argumentiert ohne wissenschaftliches Fundament, ohne komplizierte Theorie. Das ist keine Schwäche des Buches, weil Ronson stattdessen konkrete, plastische Beispiele nennt, weil er sich mit verschiedensten Menschen getroffen hat, die schon einmal in das Auge eines Shitstorms blicken mussten. Dabei stellt Ronson immer wieder fest, dass es eine Renaissance öffentlicher Demütigungen gibt. Und vor allem, dass es einen gewaltigen Unterschied gibt zwischen der Einzelperson, die im Kreuzfeuer steht, und der Masse, die aus der Ferne lästert und beleidigt.
    "Wenn Demütigungen wie fernab ausgeführte Drohnenangriffe daherkommen, ist niemand gezwungen, darüber nachzudenken, wie verheerend sich unsere gebündelten Kräfte auswirken können. Die Schneeflocke muss sich ja auch nie für die ganze Lawine verantwortlich fühlen."
    Neben der Frau mit dem AIDS-Tweet besucht Jon Ronson zum Beispiel einen ebenfalls schwer gebeutelten Autoren, der für ausgedachte Bob-Dylan-Zitate angeprangert wurde, oder eine Sozialarbeiterin, die für ein Foto bekannt wurde, auf dem sie mit weit aufgerissenem Mund und ausgestrecktem Mittelfinger auf einem wichtigen Nationalfriedhof zu sehen ist.
    Alle haben einen veritablen Shitstorm hinter sich; wurden so sehr beschämt, dass Jon Ronson meint, so etwas hätte noch im 18. Jahrhundert in weiten Kreisen als schockierend gegolten. Deshalb ist sein Urteil über die heutige Gesellschaft durchweg negativ:
    "Wir halten uns zwar alle für unangepasst, aber mit all dem, so glaube ich, ebnen wir einem Zeitalter des Konformismus und Konservatismus den Weg. 'Schaut her!', sagen wir. 'WIR sind normal! DAS hier ist der Maßstab!' Wir definieren die Grenzen dessen, was normal ist, indem wir jene Menschen zerstören, die sich außerhalb befinden."
    Jon Ronson beklagt unreflektiertes Mitläufertum
    Ronson beschäftigt sich in seinem gut und leicht zu lesenden, aber dennoch irritierenden Buch nicht nur mit der Beschreibung der aktuellen Situation, sondern zeigt auch, wann Online-Pranger keine Wirkung haben: Wenn sich zum Beispiel die betroffene Person weigert, sich zu schämen; oder wenn Profis dafür sorgen, dass die peinlichen Geschichten der Vergangenheit nicht mehr auf der ersten Google-Suchseite angezeigt werden - weil fast neunzig Prozent von uns nicht über diese erste Seite hinausgehen. Das Fazit, das Ronson aus seiner Recherche zieht, ist aber dennoch verheerend:
    "Es gibt zwei Typen von Menschen: Diejenigen, denen Menschen wichtiger sind als Ideologien. Und diejenigen, denen Ideologie wichtiger ist als der Mensch. Letztere liegen im Moment vorne. Sie haben eine Bühne geschaffen für dauerhafte, künstliche Hysterie. Und auf dieser Bühne ist man entweder ein fantastischer Held - oder ein entsetzlicher Bösewicht. Das Tolle an den sozialen Medien war, dass sie Menschen eine Stimme gegeben haben, die vorher kein Mitspracherecht hatten. Aber aktuell erschaffen wir uns eine Überwachungsgesellschaft, in der es am klügsten ist, wieder in Schweigen zu verfallen."
    Jon Ronson will diese Entwicklung nicht hinnehmen und darüber aufklären, was mit den einzelnen Menschen passiert, nachdem sie am Social-Media-Pranger standen. Sein Buch ist dabei eine große Hilfe: Es macht anhand einzelner, gut ausgewählter Beispiele klar, dass wir alle Anteil haben an dieser Entwicklung und die Situation nur verbessern können, indem wir beim nächsten Shitstorm nicht einfach blind mitlaufen sondern auch im Netz die Konsequenzen unseres Tuns im Blick behalten.
    Jon Ronson: "In Shitgewittern. Wie wir uns das Leben zur Hölle machen"
    Tropen Verlag, 330 Seiten, 14,95 Euro.