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Netzwerk-Profile
Freiwillige Selbsterfassung im Stil der Kriminologie

Die Selbstpräsentationen und Selbstvermessungen in digitalen Netzwerken gehen auf Methoden der Kriminologie oder Psychologie zurück. Wie sich die Nutzer diese freiwillig aneigneten, zeichnet der Kulturwissenschaftler Andreas Bernard in seinem Buch "Komplizen des Erkennungsdienstes" nach.

Von Ralph Gerstenberg | 29.01.2018
    Gesichter werden verdeckt von Puzzleteilen.
    Andreas Bernard entlarvt die Selbstermächtigung im Netz als freiwillige erkennungsdienstliche Praxis. (imago/Ikon Images/ Klaus Meinhardt)
    Ein Profil entwickeln - der freie Markt der Interessen und Fähigkeiten trieb auch schon im vordigitalen Zeitalter Menschen in einen erbarmungslosen Konkurrenzkampf, jagte karrierebewusste Könner und machtbesessene Schaumschläger aufeinander. Doch niemand war gezwungen, sich zu profilieren. Man konnte sich den neoliberalen Selbstvermarktungsstrategien entziehen. Heutzutage ist das nicht mehr so einfach. Es werden viel mehr Profile erstellt als entwickelt - freiwillig, bedenkenlos, massenhaft. Warum und auf welcher Grundlage, das untersucht der Kulturwissenschaftler und Publizist Andreas Bernard in seinem neuen Buch "Komplizen des Erkennungsdienstes". Was eigentlich ist dieses "Selbst in der digitalen Kultur", fragt er darin, in einer Kultur also, in der Selbstvermessung, Selbstortung, Selbstoptimierung oder Selbstpräsentation milliardenfach praktizierte Techniken sind - Techniken, die nicht funktionieren ohne die Profile ihrer Nutzer. Um diesem Selbst auf die Spur zu kommen, nimmt Bernard also zunächst das Profil unter die Lupe.
    "Bis vor 20 oder 25 Jahren waren nur Serienmörder oder Wahnsinnige Gegenstand eines 'Profils'. Diese Wissensform, dieses Raster der Menschenbeschreibung hat im letzten Vierteljahrhundert eine so rasante wie tiefgreifende Umwandlung erlebt. Vor dem Hintergrund seines heutigen Gebrauchs ist es daher aufschlussreich, sich mit der historischen Semantik des Begriffs auseinanderzusetzen. In welchen Zusammenhängen und zu welchem Zeitpunkt taucht das schriftliche 'Profil' auf? Wer ist sein Autor, wer sein Gegenstand, und warum wird es erstellt?"
    Geschichte des "Profils"
    Bis zum frühen 20. Jahrhundert, so Bernard, sei das Profil "im Sinne eines tabellarischen oder schematischen Abrisses, der Auskunft über einen Menschen gibt", nicht bekannt gewesen. In den zehner und zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden Profile in Testverfahren der angewandten Psychologie unter anderem dazu benutzt, um unter schulpflichtigen Kindern "Psychopathen" herauszufiltern, wie es damals hieß. So nannte man schwererziehbare oder lerngestörte Heranwachsende, die aus "heilpädagogischen" Gründen einer Hilfsschule zugeführt werden sollten.
    Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es vor allem in den USA zur Kooperation von Psychologen und Kriminalisten bei der Erstellung von Täterprofilen. In den 1970er Jahren gründete das FBI gar eine eigene Abteilung, in der Verhaltensmuster und Persönlichkeitsabdrücke analysiert wurden, um zum Beispiel Sexualmorde aufzuklären. So sei ein knappes Jahrhundert lang das Profil dazu benutzt worden, "Individuen in einer Prüfungs- oder Fahndungssituation" zu beschreiben, stellt Andreas Bernard fest.
    "Folgt man Michel Foucaults grundlegendem Befund, dass sich das Wissen vom Menschen seit dem späten 18. Jahrhundert vorwiegend von randständigen Subjekten her entwickelt - dass die Fragen, wie seine Identität zu ermitteln oder sein Körper zu vermessen sei, in erster Linie von der psychiatrischen Erfassung des Kranken und vom kriminalistischen Zugriff auf den Verbrecher vorangetrieben wurden -, dann verdichtet sich diese Bewegung im Wissensformat des Profils. Sein Gegenstand ist ein Evaluierter oder Gejagter, seine Autoren sind Repräsentanten staatlicher, polizeilicher und wissenschaftlicher Autorität."
    Aus dem entgrenzten Selbst wurde ein erfasstes Selbst
    Erst mit dem Aufkommen des Internets wurden Profile von den Nutzern freiwillig erstellt. Zunächst mit viel Emphase angesichts der neuen Möglichkeiten zur Selbstentfaltung. In der frühen Cyberspace-Ära war viel die Rede von Authentizität, Identität und Individualität. Doch aus dem "entgrenzten Selbst" wurde rasch ein "erfasstes Selbst", führt Andreas Bernard aus. In den sozialen Netzwerken und auf Dating-Plattformen wurden Profile zu einer Art Währung für die kommerzielle Verwertung. Das Spiel mit verschiedenen Identitäten war ausgeträumt, als Mark Zuckerberg festlegte, dass jeder Nutzer nur ein Facebook-Profil erstellen darf. Es galt, "das Subjekt dingfest" zu machen, wie Bernard meint, was soviel heißt wie: nutzbar für Werbekunden.
    Auch an anderen Beispielen, GPS-Systemen, Smart-Watches oder Fitness-Armbändern, zeigt Andreas Bernard, wie Techniken der Überwachung und Verbrechensbekämpfung - Peilsender oder elektronische Fußfesseln - bedenkenlos genutzt werden, um ein komfortables und lifestylegerechtes Leben zu führen. Dabei interessiert ihn vor allem, wie das Selbst, das sich darstellen und erkennen will, kontrolliert und manipuliert wird.
    "Von der Disziplinarmacht des 18. und 19. Jahrhunderts über die Kontrollmacht des 20. scheint der Weg seit der Wende zum 21. Jahrhundert also zu einer dritten Ausprägung geführt zu haben, die man Präventionsmacht nennen könnte oder Internalisierungsmacht. Sie sorgt dafür, dass Archive der Erfassung oder Normvorstellungen des Lebens nicht mehr von einer äußeren Instanz durchgesetzt werden müssen, sondern bereits kollektiv verinnerlicht sind. Ein Profil anlegen! Den eigenen Standort mitteilen! Gläsern werden! Behinderte Kinder entsorgen! Imperative, die sich inzwischen von selbst verstehen, die sich von Weisungen in Wünsche verwandelt haben."
    Das "Versprechen der Selbstermächtigung", resümiert Andreas Bernard in seinem Buch, sei eine weitaus mächtigere Waffe als die "Vereinheitlichung der Gedanken". Heutzutage brauchen die Menschen keinen Big Brother, um gleichgeschaltet zu werden, sie tun es ganz von selbst. Immer wieder verweist der Kulturwissenschaftler auf Orwells Totalitarismusvision "1984". Das Humane war bei Orwell das Nichterfassbare, Innerste, Private, das es eigentlich nicht zu geben hatte: Gedanken, Gefühle, Sehnsüchte. Der Kern des Menschlichen überlebte im Verborgenen, sagt Bernard. Heute existiere nur das, was medial kommuniziert werden könne. Das Ich sei auf ein Profil reduziert. Und jegliche Opposition würde ins Leere laufen. Eine Cloud könne man nun mal nicht in die Luft sprengen. Es ist ein düsteres, ja erschreckendes Bild, das Andreas Bernard in seinem erhellenden Buch von unserer schönen, neuen digitalen Welt zeichnet - ein Buch, das man mit der neuen Smart Watch gleich mitbestellen sollte.
    Andreas Bernard "Komplizen des Erkennungsdienstes. Das Selbst in der digitalen Kultur"
    S.Fischer Verlag, 237 Seiten, 24 Euro.