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Neu im Kino
Familienillusion Schicht um Schicht entkernt

Regisseur David Fincher erzählt die düstere Seite des amerikanischen Traums in seinen Filmen. Auch sein neuer Film, "Gone Girl - Das perfekte Opfer", scheint zunächst eine genretypische Entführungsgeschichte. Außerdem frisch auf der Leinwand: der niederländische Film "Borgman" sowie "Land der Wunder", ein Film über eine italienische Multi-Kulti-Familie.

Von Hartwig Tegeler | 01.10.2014
    Ben Affleck als Nick Dunne im Film "Gone Girl"
    Ben Affleck als Nick Dunne im Film "Gone Girl" (dpa/picture alliance/20th Century Fox)
    Es ist so eine Sache mit der Familie im Kino.
    Thomas Vinterberg, Regisseur des ersten Dogma-Films "Das Fest" - böser Familienfilm - meinte: Die Familie ist nicht der Ort, wo die Wahrheit ist. Ein Satz, den der holländische Regisseur Alex van Warmerdam mit seinem surrealen Familien-Horror "Borgman" faktisch unterschreibt. Marina, Frau des reichen Fernsehproduzenten Richard, jedenfalls wird mit ihrem Lebenscredo:
    "Ich will wissen, was in meinem Haus passiert."
    ...auf die Nase fallen.
    Vielmehr passiert etwas in ihrem Haus, was sie nicht einmal ansatzweise verstehen wird. Wir übrigens auch nicht wirklich! Was paradoxerweise der perfiden Wirkung dieses Films durchaus zum Vorteil gereicht. Dabei fing alles recht harmlos an. Der Herr der Luxusvilla öffnet:
    "Könne ich bei Ihnen vielleicht ein Bad nehmen.
    Wie bitte?
    Eine Dusche tut´s auch.
    Ich denke nicht.
    Sie würden mir einen großen Gefallen tun. Ich konnte mich leider schon länger nicht waschen."
    Richard schlägt Borgman die Tür vor der Nase zu:
    "Auf Wiedersehen! [Tür schlägt zu.]"
    ... bis der nur meint:
    "Ich kenne Ihre Frau."
    Alex van Warmerdam erzählt, wie Borgman sich Zutritt zu dieser Familie verschafft, sie manipuliert und die unterdrückten Sehnsüchte und Ängste hervorbrechen lässt.
    O-Ton: "Ich fühle mich so schuldig. Uns geht es so gut."
    "Borgman" ist ein herrlich hinterhältiger Film und durchaus komisch in seinem absurd-lakonischen Ton, wenn dieser Mann zunächst den Garten und dann die ganze Familie auseinandernimmt. Was und wer dieser Borgman ist - Das absolut Böse? Ein schwarzer Engel? Real oder nicht, das lässt Alex van Warmerdam in der Schwebe. Fast leise, entwickelt sich dieser Film zum Psycho-Schocker.
    "Borgman" von Alex van Warmerdam - herausragend.
    Es fängt so schön an in "Gone Girl - Das perfekte Opfer". Boy meets Girl, Amy - Rosamund Pike - trifft Nick - Ben Affleck.
    "Und du, wer bist du?"
    "Ich bin der Mann, der dich rettet. Aus all der Herrlichkeit."
    Fünf Jahre später, Job verloren, gelandet in der Provinz, scheint das Leben von Nick und Amy zwar noch in Ordnung, aber am fünften Hochzeitstag, da ist sie auf einmal verschwunden. Und er:
    "Ich habe nichts mit dem Verschwinden meiner Frau zu tun. Ich habe nichts zu verbergen."
    ...gerät unter Verdacht. Zumal Amys Tagebuch auftaucht. Mit Sätzen über ihre Ehe wie:
    "Ich fürchte, es gibt mich bald nicht mehr."
    Am Anfang fährt David Fincher in "Gone Girl" die genretypischen Versatzstücke eines Entführungsthrillers auf, um dann allerdings die Geschichte und unsere Erwartungen böse durch den Wolf zu drehen. Weder Gatte noch Gattin waren oder sind nämlich das, was sie vorspielten. In einer Parallelmontage erzählt "Gone Girl" vom Alb dieser Ehe wechselweise aus Nicks und aus Amys Perspektive. Was mit einer diabolischen Logik zur Frage führt, was wir hier denn überhaupt haben: Entführung, Selbstmord, Mord oder etwas ganz Anderes.
    Präzise schält Regisseur Fincher die Zwiebel Schicht um Schicht, bis von Familienillusionen nichts mehr bleibt.
    Am Ende, meint Regisseur David Fincher - und dem ist nichts hinzuzufügen -, weiß keiner, wer gut, wer böse, wer Opfer oder Täter ist. Wie sagt die ermittelnde Polizeibeamtin über diesen Fall und über das Leben:
    "Kennst du das Sprichwort, die einfachste Antwort ist meistens die richtige?"
    "Ja, ja, aber ich glaube eigentlich nicht, dass es stimmt."
    "Gone Girl - Das perfekte Opfer" von David Fincher - herausragend.
    Text: Die Familie hingegen in Alice Rohrwachers Film "Land der Wunder" wirkt auf den ersten Blick disparat. Fast heruntergekommen. Luxus, Ordnung, Sicherheit? Weit gefehlt. Da ist der Vater, ein Spätachtundsechziger, den es hierher, nach Mittelitalien, verschlagen hat. Ein Imker mit einer riesigen Frauen-Familie, der italienischen Mutter und den Töchtern. Im Mittelpunkt von "Land der Wunder" steht dabei Gelsomina, die älteste, zwölfjährige Tochter, die mit den Honigbienen noch geschickter umgehen kann als ihr Vater. Doch dann hat Gelsomina eine Idee, sie will bei einer Fernsehshow mit dem Namen "Land der Wunder" mitmachen:
    "Babu."
    "Was ist?"
    "Machen wir mit dort?"
    "Bei was?"
    "Also, bei der Auswahl, für 'Land der Wunder'."
    "Ja, das fehlt mir noch. So eine Scheiße."
    Kein Konsumismus auf meinem Hof! Meint der Vater. Um am Ende doch mitzumachen, weil ihm finanziell das Wasser bis zum Hals steht. Alice Rohrwacher erzählt ihre Geschichte dieser um ihre Existenz kämpfenden Familie ganz aus der Perspektive von Gelsomina, und dabei gelingt ihr in der gleißenden Sonne Mittelitaliens ein sensibler Film, der auf schöne Weise das Realistische wie das Märchenhafte verbindet. Denn die Frage bleibt - und die Antwort überlässt Alice Rohrwacher uns ganz allein -, wo denn Zusammenhalt, Solidarität in einer Familie zu finden sind: im Märchen oder in der Realität.
    "Land der Wunder" von Alice Rohrwacher - empfehlenswert.