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Neuauflage
Der moralisch strenge Herr Sebald und die Ausgewanderten

Zehn Jahre nach dem Tod des deutschen Schriftstellers W.G. Sebald wird sein 1992 erschienener Erzählband "Die Ausgewanderten" neu aufgelegt. Die aus Hörensagen und Schriftstücken zusammengesetzten Porträts haben auch heute noch das Zeug zum Klassiker.

Von Roland H. Wiegenstein | 16.01.2014
    Wenn ein angesehener Verlag nach etwa zehn Jahren das Buch eines Autors, das etwas weniger als zwanzig Jahre zuvor bei einem anderen Verlag zu erst publiziert worden ist, nicht einfach nur neu auflegt, sondern als gleichsam neues ankündigt, darf man vermuten, dass es sich um einen wichtigen Autor handeln müsse, einen von denen, die man im Jargon "Klassiker" nennt. Genau das ist bei W.G. Sebalds Buch "Die Ausgewanderten", geschehen, das 1992 herauskam, und zahllose Übersetzungen in andere Sprachen nach sich zog. Ein typisch "deutscher" Autor, von dem man etwas über die Seelenverfassung der Deutschen erfahren kann? Etwa dies?
    "Obgleich ich während meines mehrtägigen Aufenthalts in Kissingen und in dem von seinem einstmaligen Charakter nicht mehr das geringste verratenden Steinach zur Genüge beschäftigt gewesen bin mit meinen Nachforschungen und meiner wie immer mühevoll vorangehenden Schreibarbeit spürte ich doch in zunehmenden Maß, dass die rings mich umgebende Geistesverarmung und Erinnerungslosigkeit der Deutschen, das Geschick, mit dem man alles bereinigt hatte, mir Kopf und Nerven anzugreifen begann."
    In diesem einen langen Satz steckt in nuce die schriftstellerische Bedeutung und moralische Strenge Sebalds, der 1944 in Wertach in Allgäu geboren, bereits 1966 nach England auswanderte, nur zu Studienzwecken auf Zeit nach Deutschland zurückkehrte und nach seiner Habilitation in Hamburg, an der Universität von East Anglia in Norwich lehrte. Bis zu seinem vorzeitigen Tod 2001. Die "vier langen Erzählungen", die das Buch "Die Ausgewanderten" enthält, sind nichts anderes als ausführliche Begründung für seine eigene Auswanderung. In blendendem Stil beschreibt er die Gründe für das, was er selbst sich verordnet hat, freilich anhand anderer Personen, wobei willentlich offenbleibt, wie viel davon "Geschichte" ist, wie viel, Fantasie einschließende, Erinnerung. Sicher ist nur, die handelnden Personen der Erzählungen sind alle bereits tot: Er gedenkt ihrer: Wer weiß von ihnen noch etwas - außer ihm? So lässt er den erfundenen – oder mindestens weithin imaginierten Großonkel Ambros Adelwarth in dessen Erinnerungen notierten:
    "Die Erinnerung fügt er in einer Nachschrift hinzu, kommt mir oft vor, wie eine Art von Dummheit. Sie macht einen schweren, schwindeligen Kopf, als blickte man nicht nur zurück durch die Fluchten der Zeit, sondern aus großer Höhe auf die Erde hinab von einem jener Türme, die sich im Himmel verlieren."
    Aus Hörensagen und Schriftstücken zusammengesetzte Porträts
    Sebald guckt nicht aus großer Höhe; er bleibt auf der Erde, setzt sich die Porträts zusammen, aus Hörensagen und Schriftstücken, aus dem, was übrig geblieben ist. Alle Figuren stammen aus Deutschland. Etwa:
    Der Großonkel Ambros, der schon zu Beginn des 20.Jahrhunderts nach Amerika ausgewandert ist, Etagenkellner wurde, mit einem Japaner zwei Jahre in dessen schwimmenden Holzhaus lebte, vom reichen Solomon als Begleiter, Diener, Freund für dessen zu allen Arten von Ausbruch neigenden Sohn Cosmo engagiert wurde und mit ihm auf weite Reisen ging, wobei Cosmo, leidenschaftlicher Flieger und Spieler sich auf den stets die Form wahrenden Ambros verlassen konnte – bis zu seinem Tod. Und dieser, vereinsamt aber durch eine Verfügung Solomons gesichert, dennoch von einer Nervenkrankheit befallen, an zahllosen Elektroschocks die damals in Amerika Mode waren, elend zugrunde ging, freiwillig sich sterben lassend, wie Sebald vermutet. Die Ambrosgeschichte ist, wie die anderen auch, eine Art von Kettenerzählung, in der die Person des Erzählers mehrfach wechselt, bis hin zu Ambros nachgelassenen Tagebuch, das Tante Fini dem Autor gegeben hat. Tante Fini lebt dahin in einer amerikanischen Altensiedlung, als letzte einer Sippe, die Hitlers Rassenwahn zum Opfer fiel. Erinnerungen - soweit Sebalds, des den Leben der Toten nachspürenden Chronisten Forschungen reichen.
    Eine Art Kettenerzählung
    Die Ambros-Erzählung ist die in ihrer verschachtelten Anlage komplizierteste der vier Stücke, sie beginnt schon 1881 mit dessen Auswanderung und dem Eintauchen in die jüdische Gettowelt New Yorks, ehe ihn das Schicksal des ewigen Dieners ereilt.
    Die zweite der Geschichten, ist auch die, die am meisten an Johann Peter Hebel erinnert, dessen "Rheinischer Hausfreund", im Haus der Eltern von Paul Bereyter gelesen wurde, des Schullehrers, der als "Dreiviertelarier" dennoch aus dem Dienst entlassen wurde, nach Frankreich ging, erst 1939 nach Deutschland zurückkehrte, gleichwohl aber als Soldat eingezogen wurde, und doch wieder am alten Ort Lehrer wurde, obwohl seine Freundin im Vernichtungslager ermordet worden war, und der sich schließlich nach Yverdon zurückzog, sich dort auf die Zugschienen legte und umbrachte. Davon erfährt Sebald durch Madame Landau, die den Paul am Ende begleitet auf seinen Wanderungen, sie habe zwar, sagt sie, viele Männer kennengelernt, ungehobelte Klötze meist, aber einen umsichtigeren Kompagnon als diesen vor innerer Einsamkeit beinah aufgefressenen Kompagnon habe sie sich nicht vorstellen können. Familiengeschichte des Überlebenden, der es nicht verwunden hat, allein übrig geblieben zu sein. Geschichten wie die des Dr. Henry Selwyn, der einmal Herschel Seweryn hieß, dessen Familie aus Grodno stammte, nach England auswanderte, den Sohn Medizin studieren ließ. Sebald begegnet dem alten Mann in Cambridge und erfährt seine Geschichte – ehe auch der Suizid begeht.
    "In ziemlich regelmäßigen Abständen besuchte uns Dr. Selwyn in dem noch fast ganz leeren Haus und brachte uns Gemüse und Kräuter aus seinem Garten ‹…› Bei einer dieser Gelegenheiten gerieten wir, Dr., Selwyn und ich, in eine längere Unterhaltung, die davon ausging, dass Dr. Selwyn mich fragte, ob ich nie Heimweh verspüre. Ich wusste darauf nichts Rechtes zu erwidern, Dr. Selwyn machte nach einer Bedenkpause mir das Geständnis – ein anderes Wort träfe den Sachverhalt nicht -, dass ihn das Heimweh im Verlauf der letzten Jahre mehr und mehr angekommen sei."
    Und dann erzählt er von seiner Jugend. Heimweh ist das, was den Ausgewanderten bleibt. So sehr sie sich auch in der neuen Umgebung eingewöhnt haben. Das Wort "Heimat" fällt nicht, Sebald verbietet es sich, so wie es auch Max Ferber nicht in den Sinn gekommen wäre, den er bald nach seiner Ankunft in Manchester auf einem verlassenen Fabrikgelände trifft, Ferber ist Maler und hat dort in einem kleinen Häuschen sein Atelier, dessen Wände und Böden vollständig mit schwarzem Staub bedeckt sind, den der Maler niemals aufwischen lässt: Staub aus den Fabrikschloten und Staub von der schwarzen Kreide mit der Ferber, zehn Stunden am Tag, seine Papiere und Leinwände bedeckt.
    Staub aus Fabrikschloten, Staub aus schwarzer Kreide
    Er malt Porträts und in der Art wie der Student Sebald ihn beschreibt, fühlt man sich an den Maler Lucian Freud erinnert. Ferber ist mit einem durch Bestechung erlangten Visum 1943 nach England gekommen, wo er in einem Militärhospital arbeitet, seine Eltern, die ihn in Sicherheit schickten, sind im Holocaust verschwunden. Er bleibt in Manchester, bewegt sich nur einmal noch aufs Festland, um in Colmar Grünewalds Altar zu sehen. Als Sebald ihn, Jahre später noch einmal besucht, immer noch am gleichen Ort, ist er berühmt geworden. Und erzählt weiter von sich. Auch dies ist eine Kettenerzählung, denn Ferber lässt Sebald vor dem Selbstmord noch das Tagebuch seiner Mutter Luise Lanzmann lesen, die darin nur von ihrer eigenen Kindheit erzählt. Mit den Eindrücken aus dem Lager "Litzmannstadt", wie die Eroberer Lodz nannten, endet das Buch.
    Darum ist Sebald weggegangen, ausgewandert: Er ertrug die Deutschen nicht. Und hat doch nicht nur Deutsche Literatur in Norwich gelehrt, sondern vielleicht das schönste Deutsch geschrieben, das in seiner Generation zu finden ist. Ein Deutsch freilich, das eher an Dichter des 19.Jahrhunderts gemahnt, also an das, was er selbst in Norwich lehrte, eher jedenfalls als an unsere Alttagssprache. Kaum je habe ich in den letzten Jahren Landschaftsbeschreibungen von solcher Intensität und Klarheit gelesen, - über Stifter hat er geschrieben. So hat er Bilder von der alten Kleinstadt Steinach entworfen, die einmal ein Drittel jüdischer Einwohner hatte und vom desaströs verkommenen Manchester, das einmal eine blühende Industriestadt war und dann eine aufgegebene Wüste, wie das heutige Detroit.
    Wie Sebald auf seine nur ihm eigentümliche Weise Erinnerungen und Spurensuche verbindet und wie darin deutsche Unheilsgeschichte immer wieder durchscheint, das macht diese neue Auflage eines bedeutenden Buchs sinnvoll, ja notwendig. Unsere Geschichte wird noch lange nicht auserzählt sein, auch wenn die, die es nun versuchen, sich an die Stimmen der Toten halten müssen, die auf Papier und in Tonbändern und Filmen überliefert sind. Von Lanzmann etwa – und Sebald.
    W.G. Sebald: "Die Ausgewanderten"
    Hanser Verlag, 352 Seiten, 24,90 Euro.