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Neuauszählung in Köln
"Die Rechtslage in Deutschland ist zu unklar"

Angesichts der Neuauszählung von Stimmen in einem Kölner Wahlbezirk fordert der Wahlrechtsexperte Wilko Zicht Gesetzesänderungen. In Deutschland sei die Rechtslage bei möglichen Unstimmigkeiten zu unklar - Parteien sollten das Recht erhalten, Nachzählungen zu verlangen.

Wilko Zicht im Gespräch mit Friedbert Meurer | 19.05.2015
    Ein Mann wirft Stimmzettel für die Europa- und Kommunalwahl in eine Urne
    Immer wieder kommt es bei Wahlen zu Auszählungsfehlern. (dpa/picture alliance/Bernd Wüstneck)
    Von den Auswirkungen her sei der Fall der Kommunalwahl in Köln, wo in einem Bezirk Briefwahl-Stimmen falsch zugeordnet wurden, ungewöhnlich - in der Millionenstadt droht nämlich eine Verschiebung der Machtverhältnisse. Fehler dieser Art allerdings kämen häufiger vor: Bei der letzten Bundestagswahl etwa seien in vielen Wahllokalen die Zahlen der AfD mit anderen Kleinparteien vertauscht worden. "Das Ausfüllen des Wahlprotokolls ist der letzte Schritt bei der Auszählung, da lässt die Konzentration möglicherweise nach", führte Zicht als mögliche Erklärung an. Man müsse akzeptieren, dass bei einem solchen Massengeschäft Fehler passierten - zumal "ganz viele Menschen am Werk sind, die das ehrenamtlich machen und dabei natürlich Fehler machen".
    In der Regel habe dies aber nicht solche Auswirkungen wie in Köln - dennoch solle man kein blindes Vertrauen in das Auszählungsverfahren haben. "Es ist Aufgabe der Wahlbehörden, bei einem knappen Ergebnis genau hinzuschauen und mögliche Fehler aufzuklären", so Zicht. In Köln sei genau dies nicht passiert, weil eine Plausibilitätsprüfung von Amts wegen nicht vorgesehen sei - vielmehr habe die CDU diese selbst durchgeführt.
    Recht auf Neuauszählung
    Der Wahlrechtsexperte Zicht sprach sich deswegen dafür aus, die Hürden für eine Neuauszählung der Stimmen zu senken. "Die Rechtslage in Deutschland ist zu unklar", sagte er. "Es kann nicht sein, dass die Verwaltung behauptet, man dürfe bei offensichtlicher Unplausibilität nicht neu auszählen." Parteien sollten wie in anderen Ländern das Recht erhalten, Nachzählungen zu verlangen - möglicherweise auf eigene Kosten, um Missbrauch zu vermeiden.
    Allerdings bringe die Nachzählung ein anderes Problem mit sich, weil die Stimmzettel seit dem Wahltag nicht mehr unter öffentlicher Kontrolle gelagert seien - das eröffne neue Möglichkeiten für Manipulationen. "Man sollte das nicht als Allheilmittel sehen", so Zicht.

    Das Interview in voller Länge:
    Friedbert Meurer: Man stelle sich einmal vor, die Bundestagswahl ist ein Jahr vorbei und heute würde ein einziger Wahlkreis neu ausgezählt, von dem alles abhängt. Die Republik stünde Kopf. Ein wenig war es genau so die letzten Monate hier in Köln. Lange wurde darum gefeilscht, die Briefwahl-Stimmen und nur sie im Bezirk Rodenkirchen noch einmal auszuzählen. Heute ist es so weit und die Auszählung könnte die Mehrheitsverhältnisse in der Stadt umkehren.
    Wilko Zicht ist Wahlrechtsexperte, hat mit einigen anderen die Plattform wahlrecht.de gegründet. Jetzt ist er selbst in die Politik gegangen als Abgeordneter ganz aktuell in der Bremischen Bürgerschaft für Bündnis 90/Die Grünen. Guten Morgen, Herr Zicht.
    Wilko Zicht: Guten Morgen, Herr Meurer.
    Meurer: Ist das eine der gravierendsten Wahlpannen, eine der größten Wahlpannen der letzten Jahre hier in Deutschland?
    Zicht: Von der Panne selber kann man das, glaube ich, nicht sagen. Aber natürlich sind die Auswirkungen beträchtlich. Dass wir da jetzt eventuell vor einem Mehrheitswechsel der politischen Verhältnisse in einer Millionenstadt stehen, ist dann in der Tat eher ungewöhnlich. Aber was hier im Raume steht, ist ja, dass hier zwei Stimmenzahlen vertauscht wurden im Wahlprotokoll durch die Wahlhelfer, und so was kommt schon vor. Wir haben jetzt bei der letzten Bundestagswahl zig Wahllokale feststellen müssen, wo die Zahlen der AfD vertauscht wurden mit anderen kleinen Parteien. Das ist aufgefallen, weil die anderen Parteien, die dort in der Reihenfolge waren, meist gar keine, oder nur ganz wenige Stimmen hatten und das überhaupt nicht plausibel war, dass die AfD da so wenig hatte.
    Meurer: Wieso passieren da so häufig Fehler?
    Zicht: Na ja. Das Ausfüllen des Wahlprotokolls ist der letzte Schritt nach der Auszählung. Da lässt dann die Konzentration ein bisschen nach, weil man eigentlich meint, als Wahlhelfer hat man die wesentliche Arbeit hinter sich gebracht. Dann kontrollieren vielleicht auch nicht mehr alle Wahlhelfer, ob das jetzt richtig ins Protokoll eingetragen wurde, und dann wandert so ein Fehler letztlich auch ins Ergebnis. Man muss aber sagen, dass das in der Regel nicht solche Auswirkungen hat wie jetzt in Köln.
    Fehler fallen oft nur bei Plausibilitäts-Checks auf
    Meurer: Man kann bei Ihnen auf der Homepage nachlesen den Unterschied zwischen dem vorläufigen amtlichen Endergebnis und dem endgültigen Endergebnis bei der Bundestagswahl beispielsweise, und da reden wir über Tausende von Stimmen, Tausende, die sich verschieben. Wie kann so was passieren?
    Zicht: Es gibt zum einen Stimmzettel, die von vornherein als Zweifelsfälle aussortiert wurden, wo die Wahlhelfer sich selber nicht ganz sicher waren, weil da irgendwas Ungewöhnliches drauf markiert worden war. Die schauen sich die Behörden dann an und dann werden viele nachträglich noch für gültig erklärt. Und dann gibt es einfach Fälle, wo zum Beispiel die Wahlhelfer bei der Stapelbildung sich versehen haben. Dann wurden zwischendurch mal ein paar Stimmzettel auf den falschen Stapel gelegt und dann hat man beim Zählen nicht noch mal genau nachgeschaut und die Summen stimmten ja, sodass das alles plausibel war, und dann waren die Wahlhelfer froh, dass sie fertig waren und sind nach Hause gegangen. In der Regel ist das keine böse Absicht. Wir müssen halt ein Stück weit akzeptieren, dass in so einem Massengeschäft Fehler passieren. Nur wenn die Wahl ganz knapp ausgegangen ist, dann ist das natürlich schon ein Anlass, noch mal genau reinzuschauen.
    Meurer: Werden diese Fehler denn ausgebügelt zwischen vorläufigem Endergebnis und endgültigem Endergebnis?
    Zicht: Manche Fehler fallen auf. So ein Fehler, wie er jetzt in Rodenkirchen mutmaßlich passiert ist, fällt allerdings nur dann auf, wenn man so eine Art Plausibilitäts-Check macht, wenn man das Wahlergebnis prüft gegenüber anderen Wahlen in diesem Wahlbezirk. Dadurch ist es in Köln jetzt erst aufgefallen, weil an diesem Tag in Köln nicht nur der Stadtrat gewählt wurde, sondern auch das Europäische Parlament und die Bezirksräte dort in Köln. Und weil bei den anderen beiden Wahlen das Stimmergebnis völlig anders war als bei dieser, ist es erst dadurch aufgefallen. Aber so eine Prüfung ist eigentlich von Amtswegen nicht vorgesehen, das hat die CDU ja in diesem Fall selber gemacht und darum ist es bei den Wahlbehörden nicht aufgefallen.
    Zweifel müssen aufgeklärt werden
    Meurer: Bevor wir über diese Nachprüfung noch reden, Herr Zicht, noch mal kurz: Diese Fehler, die passieren, ist das ein Grund, weniger Vertrauen in die Wahlabläufe bei uns zu haben?
    Zicht: Nein. Man sollte in der Tat kein blindes Vertrauen haben, weil dort ganz viele Menschen mit am Werk sind, die das ja gänzlich ehrenamtlich machen. Sie kriegen zwar eine kleine Entschädigung, aber sie machen es normalerweise nicht in ihrem Alltag, sondern das ist quasi eine Sonderaufgabe, die sie dann am Wahlsonntag übernehmen und dabei machen sie natürlich dann auch Fehler. Und es ist letztlich dann Aufgabe der Wahlbehörden, bei einem knappen Wahlergebnis entsprechend genau hinzuschauen, ob solche Fehler passiert sind, und die dann auch wirklich aufzuklären. Wenn man natürlich das Gefühl bekommt, dass dieser Aufklärungswille nicht so ausgeprägt ist, erst dann wird es zum Problem, weil dann schwindet das Vertrauen in die Integrität der Wahl, und das ist natürlich schon verheerend für eine Demokratie.
    Meurer: Aufklären kann man durch Nachzählen. Die SPD in Köln hat sich lange gegen diese Nachzählung in einem Wahlbezirk gewehrt. Dann gab es am Ende ein Verwaltungsgerichtsurteil. Sind die Hürden zu hoch, ab denen es eine Nachzählung gibt?
    Zicht: Jedenfalls ist die Rechtslage in Deutschland zu unklar, würde ich sagen. Es kann nicht sein, dass die Verwaltung behauptet, man dürfe bei offensichtlicher Unplausibilität gar nicht neu auszählen, weil man damit das Vertrauen in die Wahlhelfer untergrabe. Man sollte schon überlegen, ob wir das nicht wie in anderen Ländern machen, dass die Parteien das Recht haben, bei einem knappen Wahlergebnis eine Nachzählung zu verlangen, gegebenenfalls auch auf eigene Kosten. Das wäre dann auch noch eine Variante, um da Missbrauch zu vermeiden. Es ist jedenfalls schlecht, wenn nach der Wahl ernsthafte Zweifel bestehen, ob das alles so korrekt ist mit dem Ergebnis, aber man kann keine Nachzählung erreichen, sodass dieser Zweifel unaufgeklärt bleibt, und wir sehen jetzt in Köln, dass das ein ernsthaftes Legitimationsproblem ist. Darum sollten wir das überlegen. Allerdings man darf nicht vergessen, dass eine Nachzählung ein anderes Problem dann mit sich bringt, weil die Stimmzettel natürlich seit dem Wahltag dann nicht mehr unter öffentlicher Kontrolle gelagert wurden. Die sind dann irgendwo in einem hoffentlich gesicherten Raum versiegelt und gesichert, aber letztlich ist das natürlich eine neue Möglichkeit von Manipulationen, zumindest theoretisch, was dann wiederum auch das Vertrauen in die Nachzählung beschädigen könnte. Deswegen sollte man das auch nicht jetzt als Allheilmittel sehen.
    Meurer: Man könnte natürlich sagen, Nachzählen möglichst schnell, bevor da irgendwas verschlampt wird. Würde Ihr Vorschlag dazu führen, dass wir bei jeder Wahl jetzt Dutzende von Nachzählungen haben?
    Dass nachgezählt wurde, wird schnell wieder vergessen
    Zicht: Nein, sicher nicht. Dass es wirklich um so wenige Stimmen geht, dass man deswegen nicht ausschließen kann, dass sich das Wahlergebnis wirklich relevant ändert, das kommt eher selten vor. Aber es kommt vor, das hatten wir auch schon bei Landtagswahlen. Bei der Landtagswahl 2009 in Schleswig-Holstein ist dann auch ein Sitz gekippt, weil der ganz knapp zwischen Linken und FDP war und dann ein Wahlbezirk neu ausgezählt wurde. Das ist dann, wenn das nachgezählt wurde, auch schnell wieder vergessen. Man sollte lediglich den Eindruck vermeiden, dass man hier eine Nachzählung bewusst vermeiden will, weil man mit dem möglicherweise falschen Ergebnis zufriedener war als mit dem dann drohenden Ergebnis.
    Meurer: In Köln geht es um die Briefwahl-Stimmen. Da sind möglicherweise zwei Zahlenkolonnen, zwei Spalten vertauscht worden. Sind Briefwahl-Stimmen besonders anfällig für Pannen?
    Zicht: In diesem Fall war das jetzt ein Fehler, der genauso gut bei einer Urnenwahl hätte passieren können, weil die Auszählung dann selber sehr ähnlich ist. Allerdings hat die Briefwahl natürlich noch ein paar zusätzliche Fehlerquellen, allein durch den Transport per Briefpost, was natürlich auch gewisse Manipulationsmöglichkeiten eröffnet. Das fängt im Kleinen an bei den Leuten zuhause. Wenn sie den Stimmzettel ausfüllen, könnte es natürlich hier und da Haushalte geben, wo dann eine Person bestimmt, wie die anderen Mitglieder der Familie den Stimmzettel ausfüllen. Es gibt auch immer wieder bei Kommunalwahlen aufgedeckte Fälle, dass jemand für eine größere Gruppe von Personen die Briefwahlunterlagen beantragt hat und selber ausgefüllt hat. Da muss man in der Tat vorsichtig sein, dass wir die Briefwahl-Möglichkeit, die ja eigentlich dazu da ist, den Leuten, die am Wahlsonntag nicht zur Wahl gehen können, die Wahlteilnahme zu ermöglichen, dass man das nicht zu sehr ausweitet, weil in der Tat hat die Briefwahl ein paar Schwächen, die sie angreifbar machen.
    Meurer: In Köln wird heute in einem Wahlbezirk die Kommunalwahl noch einmal ausgezählt, könnte die Mehrheitsverhältnisse im Rat auf den Kopf stellen, und Wilko Zicht, der Wahlrechtsexperte, schlägt vor, dass künftig Parteien beantragen können, dass es eine Nachzählung gibt. Danke, Herr Zicht, und auf Wiederhören.
    Zicht: Gern geschehen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.