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Neubau Whitney Museum New York
Kubistische Konservendose mit Tumoren

Das Whitney-Museum in New York ist aus der Madison Avenue in seinen Neubau an das Ufer des Hudson Rivers gezogen. Das Museum korrigiere damit sein Image vom Tempel zum Plauschpalast und locke nicht zuletzt als Selfie-Kulisse, meint unsere Kritikerin Sacha Verna.

Von Sacha Verna | 02.05.2015
    Der Neubau des Whitney Museums in New York
    Der Neubau des Whitney Museums in New York (picture-alliance/epa/Justin Lane)
    Als "immense, reichhaltige Bouillabaisse" hat Renzo Piano sein jüngstes Werk bezeichnet und die Zutaten genannt: "Gesellschaftsleben, Urbanität, Erfindung, Konstruktion, Technologie, Poesie, Licht". Das neue Whitney Museum in New York ist der vierundzwanzigste Museums-Bau des italienischen Stararchitekten und der dreizehnte in den Vereinigten Staaten. 2008 wurde Pianos Entwurf dafür ausgewählt, 422 Millionen Dollar hat das Projekt gekostet, und mit entsprechendem Tamtam wird das Ergebnis der Welt nun präsentiert.
    Das Gebäude wirkt wie eine kubistische Konservendose mit Tumoren, aber das in bester Lage am Ufer des Hudson River. Der stahlhäutige Koloss befindet sich am südlichen Eingang zur beliebten Flaniermeile der High Line und in unmittelbarer Nähe des Galerienviertels Chelsea. An Fussvolk wird es nicht fehlen. Über neun asymmetrische Stockwerke und transparente Treppenschächte sind vier Terrassen verteilt. Man betritt das Museum durch eine aquariumartige Lobby. Von Richard Artschwager gestaltete Aufzüge sind dauerüberlastet. Denn es locken neben 5.800 Quadratmetern prall gefüllter Ausstellungsfläche eine Bibliothek, ein Saal mit 175 Plätzen für Kino, Theater und andere Darbietungen sowie ein Café und ein Restaurant, das freilich bereits auf Wochen hin ausgebucht ist.
    Für das Whitney Museum bedeutet der Auszug aus seinem langjährigen Stammhaus an der Madison Avenue der Schritt aus dem Schatten der übrigen drei grossen New Yorker Museen. Es verfügt weder über die enzyklopädischen Schätze des Metropolitan Museum noch über Meisterwerke der europäischen Moderne wie das Museum of Modern Art. Und anders als das von Frank Lloyd Wright entworfene Guggenheim Museum war der Marcel Breuer-Bau an der Upper East Side bisher in kaum einem Reiseführer als architektonische Sehenswürdigkeit aufgelistet.
    Gegründet wurde das Museum 1930 von der Mäzenin und Bildhauerin Gertrude Vanderbilt Whitney mit dem Ziel, eine Plattform für zeitgenössische amerikanische Kunst zu schaffen. Dieser Mission ist das Whitney treu geblieben, was es in seiner Eröffnungsausstellung demonstriert. "America Is Hard to See", so der Titel, besteht ausschließlich aus Werken aus der mittlerweile 22.000 Objekte umfassenden Sammlung. Mit 600 Arbeiten von 400 Künstlern wird darin eine chronologische Übersicht über die amerikanische Kunst von 1900 bis heute versucht. Doch den kataloghaft aneinandergereihten Exponaten stiehlt der Blick aus den gigantischen Fenstern die Schau. Der reicht über den Fluss und Downtown Manhattan bis zur Freiheitsstatue.
    Der neue Kunstcontainer am Ufer des Hudson ist ein prächtiges Beispiel für die Flagge, unter der Museen in die Zukunft zu segeln hoffen. Flexibilität lautet die Devise. Das gilt zunächst für die Ausstellungsräume. Es sind keine eigentlichen Räume mehr, vielmehr Behälter, in die endlose Wände gezogen, Dunkelkammern für Videos gestellt und Ecken für Installationen gebaut werden können. Mehrzweck ist auch Trumpf, was die Funktion des Museums an sich betrifft. Museen dienen längst nicht mehr nur dem Sehen, sondern ebenso dem gesehen werden. Im Whitney Museum ist das Gucken überallhin möglich. Dank viel Glas und Nischenlosigkeit, dank Veranstaltungen und kuratierten Cocktails an der schicken Museums-Bar herrscht Aktion statt Kontemplation.
    Die Kunst soll ihren elitären Beigeschmack verlieren und mehr als sich selber bieten. Schliesslich genügen wenige Google-Sekunden, um Edward Hoppers "Early Sunday Morning" oder Andy Warhols Blumenbilder im Internet zu finden. Warum also 22 Dollar Eintritt bezahlen, um das Original im Whitney Museum zu betrachten? Das Museum korrigiert sein Image vom Tempel zum Plauschpalast und lockt nicht zuletzt als Selfie-Kulisse. Renzo Pianos Bouillabaisse ist ein Eintopf für jedermann. Wohl bekommt's.