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Neue Antisemitismus-Studie
Unterschiedliche Kriterien der Beurteilung

Berichte über antisemitische Vorfälle in Berlin machen immer wieder Schlagzeilen. Mal hört man von mehr Vorfällen, mal von der niedrigsten Zahl seit Jahren. Die neue Studie des Zentrums für Antisemitismusforschung versucht nun Klarheit zu schaffen, wie über Antisemitismus diskutiert wird und welche Ansätze in der Bildungsarbeit existieren.

Von Igal Avidan | 01.06.2015
    „Die Zahl der Schändungen jüdischer Friedhöfe ist die niedrigste seit dem Jahr 2000", las man im Mai in einer Tageszeitung.
    Blick durch eine Luke in Form des Davidsterns auf Teile des jüdischen Friedhofs an der Schönhauser Allee. (picture alliance / dpa / Matthias Tödt)
    "Die Zahl der Schändungen jüdischer Friedhöfe ist die niedrigste seit dem Jahr 2000", las man im Mai in einer Tageszeitung. Dabei berief man sich eine Angabe der Bundesregierung. Noch im März berichtete dieselbe Zeitung: Die Zahl der antisemitisch motivierten Taten habe sich im letzten Jahr mehr als verdoppelt. Diese Statistik stammte von der Opfer-Beratungsstelle ReachOut. Kohlstruck vom Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin erklärt, wie diese unterschiedlichen Angaben zustande kommen. Einer der Autoren der neuen Studie, Michael Kohlstruck:
    "Die Zahlen sind unterschiedlich, weil zivilgesellschaftliche Organisationen weitgefasstere Kriterien an das Feld herantragen und auch häufig ‚weichere' Kriterien. Da wird viel weniger streng geschaut als bei der Polizei, die ja verpflichtet ist lediglich Straftaten zu registrieren.
    Es hat wenig Sinn, die Befunde der zivilgesellschaftliche wie der institutionellen Träger gegeneinander zu stellen, sondern uns ging es darum zu zeigen, wie eigentlich die jeweiligen Zahlen zustande kommen."
    Ein weiterer Grund für diese Diskrepanz ist, dass viele Juden sich bei der Polizei wegen antisemitischer Vorfälle gar nicht melden. Und manch ein Polizist stuft zum Beispiel einen judenfeindlichen Anruf nicht als antisemitisch ein. Außerdem erfuhren die Forscher der Studie, dass sich auch Schulen antisemitische Vorfälle nicht immer bekanntmachen, weil dies für die Lehrer wie es heißt "einen gewissen Zusatzaufwand darstelle". Außerdem stellten die Autoren der Studie fest, dass es bei manchen Organisationen keine klar definierten Kriterien für Antisemitismus gebe.
    "Bei manchen werden 'nur' physische Angriffe erfasst und statistisch ausgewertet, bei anderen ist es sehr viel breiter: Es werden auch sprachliche Despektierlichkeiten, Beleidigungen, Schmähungen, Aversionen auch miterfasst. Das Problem ist, dass manchmal nicht wirklich beschrieben wird, um welchen Vorgang es sich handelt. Man schreibt oder spricht summarisch davon, dass es ein antisemitischer Vorgang war, aber man sagt nicht konkret worin so dass man als Leser (einer solchen Statistik) oft nicht beurteilen kann worauf stützt sich das Label 'Antisemitismus'."
    Aus Angst vor Angriffen keine Kippa
    Bei Befragung in jüdischen Gemeinden und jüdischen Schulen fand man heraus, viele Juden aus Angst vor Angriffen zunehmend auf jüdische Symbole, wie zum Beispiel das Tragen der Kippa als Kopfbedeckung, in der Öffentlichkeit verzichten. Das gilt auch für öffentliche Auftritte jüdischer Sportvereine. Auffällig war auch, dass bei jüdischen Organisationen, die politisch der israelischen Regierung nahestehen, jede Feindschaft gegenüber Israel automatisch als antisemitisch eingestuft werde. Und in der Bildungspolitik halten die Autoren der Studie besondere Förderungsprogramme zum Thema Antisemitismus für junge Muslime für kontraproduktiv. Michael Kohlstruck:
    "Man muss vorsichtig sein, diese exzeptionelle Bedeutung von Anti-Antisemitismus als Vorzeichen in der politischen Arbeit zu verwenden. Dort, so glauben wir, ist es besser, wenn man diese exzeptionelle Bedeutung... etwas ausklammert und Antisemitismus in der Weise behandelt, wie man auch Islamfeindschaft, Feindschaft gegen Russlanddeutsche behandelt.
    Wenn Sie eine einzelne Gruppenfeindschaft besonders hervorheben und den jungen Leuten dann vermitteln, dass sei eine besonders niederträchtige oder eine besonders unmoralische Verhaltensweise, dann stellt sich natürlich die Frage..., ist dann die Ablehnung von Russlanddeutschen oder von sogenannten 'Muslimen'... weniger unmoralisch als Antisemitismus?"
    Deidre Berger, die das Berliner Büro der American Jewish Committe - kurz AJC - leitet, das regelmäßig Aufklärungsprojekten gegen den Antisemitismus organisiert, sieht die Ergebnisse der Studie insgesamt mit Skepsis.
    "Diese Studie nimmt das Problem des Antisemitismus nicht mit der Ernsthaftigkeit, die man sich wünschen würde. Juden sind Teil der deutschen Gesellschaft. Antisemitismus ist nicht ein Problem unter anderen in dieser Gesellschaft und welche Gesellschaft, wenn nicht Deutschland, muss das als Angriff gegen die Demokratie verstehen".
    Grundsätzlich macht das Forscherteam der Studie die Organisationen, die Fördermittel erhalten, darauf zu achten, sich eine gewisse Unabhängigkeit zu erhalten. Michael Kohlstruck:
    "Wenn also ein Bundesprogramm ausdrücklich auch gegen Antisemitismus aufgestellt ist, dann ist klar, dass diejenigen, die daraus gefördert werden auch Antisemitismus besonders beobachten oder darüber besonders berichten und möglicherweise dann auch in ihrer Bewertung weniger präzise sind, als etwa der Fall wäre, wenn sie nicht auf dieses Thema angewiesen wären. Es gibt NGOs, die eine Politik machen, die man als Dramatisierung bezeichnen kann."