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Neue Ausgabe von "Sinn und Form"
Erinnerungen an den Literaturbetrieb

Die Zeitschrift "Sinn und Form" wartet mit einem Interview mit Jan Wagner auf – eines der aufschlussreichsten Gespräche über Lyrik seit langer Zeit. Ganz anders, aber ein weiterer Höhepunkt: Eine Vorlesung Cécile Wajsbrots, die lehrreich die Forderung nach mehr Aktualität in der Literatur zurückweist.

Von Jochen Schimmang | 02.04.2015
    Die französische Schriftstellerin Cecile Wajsbrot
    Die französische Schriftstellerin Cecile Wajsbrot (imago stock&people)
    Vor wenigen Wochen hat der Lyriker Jan Wagner für seinen letzten Gedichtband "Regentonnenvariationen" den Preis der Leipziger Buchmesse bekommen.
    Das Gespräch allerdings, das Ralph Schock, Literaturredakteur des Saarländischen Rundfunks, für seinen Sender mit Wagnüber diese Gedichte geführt hat und das jetzt in "Sinn und Form" nachzulesen ist, hat Monate zuvor stattgefunden. Da hat der Autor vom Leipziger Preis vermutlich nicht einmal geträumt.
    Dieses Gespräch ist vielleicht eines der aufschlussreichsten über Lyrik seit Langem, aufschlussreich vor allem für ein Publikum, das gern Gedichte liest oder lesen möchte, aber keineswegs zu jenem inner circle gehört, der sich über Lyrik intensive theoretische Gedanken macht. Schwerpunkt des Gesprächs ist die Analyse einzelner Gedichte des Autors unter besonderen Aspekten: dem des Reims und was alles man dazu zählen muss, der einzelnen Formen wie dem Sonett, der Sestine oder auch dem Haiku, sowie der Verschiedenartigkeit der Anlässe, die überhaupt ein Gedicht auslösen können.
    "Ich finde es wunderbar, wenn die Form sich nicht aufdrängt," sagt Jan Wagner, "sondern im Hintergrund wirkt. Wenn es eine Struktur gibt, die man beim Hören oder Lesen zwar bemerkt, die aber nicht bestimmend eingreift." Wohl wahr – und nebenher bemerkt, ist dies ein Merkmal aller gelungenen Literatur, nicht nur des Gedichts. Und sehr schön demonstriert Wagner, dass "freie Verse" keineswegs völlig frei sind, sondern "gebundene und durchgeformte Sprache". Der Gewinn, den man aus diesem Gespräch ziehen kann, ist allerdings auch der ebenso ruhigen wie hartnäckigen Befragung durch Ralph Schock geschuldet. Er war hier der Zöllner, der dem Weisen seine Weisheit abverlangt hat.
    Das Gedicht spielt in der Zeitschrift "Sinn und Form", die ja in frühen Zeiten von Peter Huchel herausgegeben wurde, von jeher eine große Rolle. Auch in dieser Ausgabe finden wir Arbeiten aus der gegenwärtigen wie vergangenen Produktion, etwa von dem Polen Mariusz Grzebalski, einem Generationsgenossen von Wagner, aber auch von dem 2009 verstorbenen Peter Horst Neumann, dieses zum Beispiel mit dem Titel "In der Bibliothek":
    Die Lesezeichen
    in verstaubten Büchern.
    Ihr Fidibusse
    abgebrannter Feuer.
    Wer löscht die Striche,
    wo's noch glimmt am Rand.
    Den Bleistift such ich,
    der den Text verstand.
    Abseits der Bibliothek und der Natur ist die Literatur, nicht nur die deutsche, nach wie vor mit den Ereignissen und Schrecken des 20. Jahrhunderts beschäftigt. Warum das so ist und warum es angemessen ist, das erklärt Cécile Wajsbrot, die im letzten Wintersemester Samuel-Fischer-Gastprofessorin am Berliner Peter-Szondi-Institut war, in ihrer Antrittsvorlesung. Diese Vorlesung, "Echo eines Spaziergangs in der Künstlerkolonie " betitelt, ist ein weiterer Höhepunkt des Heftes. Man kann hier lernen, warum die immer wieder an die Literatur gestellte Forderung nach unmittelbarer Aktualität unzulässig ist. Etwa, warum es 1989 und in den Jahren direkt danach keinen guten Roman über den Mauerfall und die Zeitenwende gegeben hat, auch wenn Autoren sich daran versucht haben. "Allein die Zeit ermöglicht den Abstand, den der Autor einer Rohfassung benötigt, um sich in den Leser einer endgültigen Fassung zu verwandeln", schreibt Wajsbrot, und: "...das Entfalten, das Schritt-für-Schritt-Aufrollen nennen wir Erzählung. Und die Erzählung trägt das Detail in sich, sie trägt die Zeit in sich und deren Spuren. Die Erzählung ist genau das Maß dieser Verschiebung, der Distanz zwischen einem Ereignis und seinem Echo in der Literatur." Genau so ist es. Gute Autoren wissen das natürlich, Programmacher in den Verlagen nicht immer. Ihnen seien daher diese Sätze ins Stammbuch geschrieben.
    Vielleicht braucht es auch Distanz, um erzählend dem deutschen Literaturbetrieb der Nachkriegszeit gerecht zu werden. "Als werde ein Buch erwartet"ist Hans Christoph Buchs Beitrag überschrieben, der im Untertitel "Erinnerungen an den Literaturbetrieb" ankündigt. Da es sich um Erinnerungen handelt, sind sie natürlich an die Person und Geschichte des Autors in diesem Betrieb gebunden, der in sehr jungen Jahren zur Gruppe 47 eingeladen wurde. Was Buch zu erzählen hat, ist nicht nur erhellend und zum Teil auch erheiternd, sondern legt im Kontrast die Wandlungen ebenso wie die Kontinuitäten bestimmter Mechanismen des Betriebs frei. Buch erzählt etwa darüber, wie sich die Gruppe 47 von einer Art Werkstatttreffen mehr und mehr zu einer Literaturbörse entwickelt hat, eine Funktion, die heute die Institute in Leipzig und Hildesheim und die Agenturen übernehmen. Er erzählt auch vom Aufstieg des Literarischen Colloqiums und davon, dass schon damals Creative Writing unterrichtet wurde und man Autoren als Writer in Residence alimentierte, nicht nur zu Hause, sondern auch, indem man sie ins Ausland verschickte.
    Sein Beitrag ist übrigens mit einer römischen Eins beziffert. Die Erinnerungen an den Literaturbetrieb gehen also weiter, und darauf darf man sich freuen, wie vermutlich auf das ganze nächste Heft von "Sinn und Form".
    Sinn und Form. Beiträge zur Literatur. Herausgegeben von der Akademie der Künste. 67. Jahr 2015, Zweites Heft (März / April). 140 S., 11 €.