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Neue Bücher von Didier Eribon
Der sanfte Rebell

Innerhalb weniger Wochen erschienen gleich zwei neue Bücher von Didier Eribon: "Gesellschaft als Urteil" - der Nachfolger seines Bestsellers "Rückkehr nach Reims" - und "Der Psychoanalyse entkommen". In beiden Büchern fordert er eine Analyse der Herrschaftsverhältnisse, um soziale und sexuelle Gerechtigkeit herzustellen. Dabei erfüllt er dies selbst nur bedingt.

Von Angela Gutzeit | 13.12.2017
    Der französische Autor Didier Eribon auf dem blauen Sofa auf der Buchmesse in Frankfurt am Main.
    Didier Eribon: Kein Umstürzler, eher ein sanfter Rebell. (picture alliance / dpa / Arne Dedert)
    Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux bezeichnete Didier Eribons Buch "Rückkehr nach Reims" als eine "bis zum Äußersten getriebene Selbstanalyse". Und es ist durchaus interessant, der Frage nachzugehen, warum diese schonungslose Introspektion nicht nur im Heimatland des französischen Soziologen und Philosophen Erfolge feierte, sondern unter anderen auch bei uns, in Deutschland, einhellig in den höchsten Tönen gelobt wurde.
    Natürlich ist es immer verlockend, einen Schreibprozess zu verfolgen, bei dem ein Autor sein Innerstes nach außen kehrt – zumal das gerade Schule macht. Aber das kann es allein nicht sein. Es muss auch etwas mit unserer Gegenwart zu tun haben, dass die Radikalität einer intellektuellen Selbsterkundung derart in den Bann schlägt.
    Schreibprojekt über die soziale Wirklichkeit
    Aber zunächst zu dem, was "Rückkehr nach Reims" im Kern ausmacht, bevor es um Didier Eribons Nachfolgeband "Gesellschaft als Urteil" gehen soll. Eribon selbst liefert dazu die beste Zusammenfassung:
    "Ich hatte mein Schreibprojekt tatsächlich so angelegt, dass es die Erkundung meines Selbst und damit auch der sozialen Welt meiner Kindheit und Jugend so weit vorantreibt, dass es die Prozesse, die mich auf eine Bahn der Abweichung und des Aufstiegs geführt, die mich von meinem zugewiesenen Schicksal, von meiner Familie und meinem Herkunftsmilieu entfernt hatten, mit größtmöglichen Aufwand untersuchen sollte."
    Und nun der entscheidende Satz:
    "Es ging in diesem Buch weniger ‚um mich selbst‘ als um die soziale Wirklichkeit, die überall ihre Urteile spricht und ihre Markierungen hinterlässt, das heißt um die Gewalt, die der Gesellschaft innewohnt und sie sogar definiert."
    Soziale und sexuelle Entfremdung
    Der 1953 in Reims geborene Didier Eribon entstammt einer Arbeiterfamilie. Als Einziger schaffte er den Sprung auf die Universität. Aber der durch Bildung ermöglichte Milieuwechsel führte zur gegenseitigen Entfremdung und schließlich zum Bruch mit seinen Eltern. Dabei wurde nicht nur der Bildungsabstand zum Problem, auch seine Homosexualität sorgte für den Ausschluss aus seiner Herkunftswelt. Heterosexuelle Klassenflüchtlinge hätten es leichter, schreibt Eribon:
    "In diesem Bereich stehen sie in Kontinuität zum Sein der Eltern, während schwule und lesbische Klassenwechsler sich außerhalb der Generationenfolge stellen."
    "Das fürchterliche Gesetz der sozialen Determination" und der sexuellen Hierarchisierung, so Eribon, entfremdete Sohn und Vater bis zur Verleugnung, ja bis zur symbolischen Auslöschung. Er schnitt den Vater aus einem Kindheitsfoto heraus, das die deutsche Ausgabe von "Rückkehr von Reims" ziert. Er schreibt:
    "Man kann ein Buch über die Scham geschrieben haben, ohne sie zu überwinden."
    Fortschreibung von "Rückkehr nach Reims"
    Deshalb ist "Gesellschaft als Urteil" eine Fortschreibung von "Rückkehr nach Reims", da eine Rückkehr, wie Eribon feststellt, niemals abgeschlossen und diese Scham, so lässt sich vermuten, auch niemals vollkommen zu überwinden ist.
    "Im Laufe dieser Entwicklung wurde ich zum jenem ‚scared gay kid‘, dem verängstigten schwulen Jungen, von dem Allen Ginsberg in einem seiner letzten Gedichte spricht. In gewisser Weise bin ich das bis heute geblieben."
    Vielleicht ist das Wort "Fortschreibung", das Eribon für sein neues Buch wählt, doch nicht die richtige Bezeichnung. Es ist eher eine vertiefende Umkreisung ein und desselben Problems mit ähnlichen Methoden. So verknüpft er seine Erkundungen und Befunde mit literarischen und theoretischen, speziell soziologischen Texten von Denkern und Schriftstellern, um dem Problem der Klassenflucht und der als existentiell empfundenen Unzugehörigkeit im Widerspruch zu, aber in den meisten Fällen doch in Übereinstimmung mit diesen Autoren nachzuforschen.
    Bordieu als Ersatzvater
    Eine Art Ersatzvater stellt dabei der französische Soziologe Pierre Bourdieu dar, mit dem Eribon bis zu Bourdieus Tod 2002 einen intensiven Kontakt pflegte. Die Schnittstelle ist dabei Bourdieus Herkunft aus ebenfalls einfachen Verhältnissen, die in der einen oder anderen Form in dessen Büchern, unter anderem in "Das Elend der Welt", "Die feinen Unterschiede" und "Bourdieu über Bourdieu" ihren Niederschlag finden.
    Durch Bourdieu lernte der junge Intellektuelle sich als Produkt einer sozialen Ordnung zu sehen, die darauf ausgerichtet ist, den Abstand zwischen den Klassen konstant zu halten – was nicht zuletzt dadurch funktioniert, dass die Benachteiligten den Ausschluss von der "legitimen Kultur", wie Eribon die bürgerliche Welt nennt, in der Regel selbst akzeptieren und fortschreiben, das heißt auf ihre Kinder übertragen.
    Dem sei nur durch radikale Abgrenzung, durch Aufstieg, im Eribon’schen Jargon "Klassenverrat", zu entkommen. Wobei Bourdieu ihn wohl lehrte, Lektüre und Analyse zu nutzen, um über diesen Weg eine "politische und theoretische Verbindung" zu seiner Familie und seinem Herkunfts-Milieu zu bewahren beziehungsweise zunächst einmal wiederherzustellen.
    Schlüssel, um zu verstehen, wer er war
    "Ohne Übertreibung könnte ich sagen, dass Bourdieu es mir ermöglichte, eine Zeit zu überleben, in der mich mein Lebensweg und die daraus resultierende Spaltung meines Ichs geradezu wahnsinnig machten. Er gab mir den Schlüssel an die Hand, um zu verstehen, wer ich war und was in meiner sozialen Existenz vor sich ging. Außerdem ließ er mich allgemeiner darüber nachdenken, was ein ‚Ich‘ ist, durch welche Mechanismen es konstituiert wird und wodurch sein Bezug zu den anderen und zur Welt bedingt ist."
    Aber wie das so ist mit den Söhnen und ihren Vätern – selbstgewählte Vorbilder sind da nicht ausgenommen: Man ringt mit ihnen. Und so beschreibt Eribon in seinem Buch auch seinen Dissens mit dem Lehrmeister. Bourdieu habe sich in seinem Band "Das Elend der Welt" zu sehr mit den jungen Männern der Pariser Vorstädte identifiziert – ohne diejenigen Menschen außerhalb zu berücksichtigen, die sich von ihnen bedroht fühlten. Diesen kritischen Einwurf führt er weiter und kommt zu einem bedenkenswerten Schluss:
    "Vor allem läuft man Gefahr, diese Jungs aus der Banlieue als ein neues Subjekt – als eine mythologische Figur – des politischen Widerstands und der politischen Radikalität zu konstruieren und damit die weißen populären Klassen noch mehr ihrem schleichenden Wechsel zu den Rechtsradikalen zu überlassen."
    Unterprivilegierte, Eliten und das Schulsystem
    Eine Einsicht, die der Erkenntnis folgt, dass man die Logik einer Kultur nicht dadurch wiedergibt, indem man ein Loblied auf sie singt.
    Es ist diese differenzierte Betrachtungsweise des Verhältnisses zwischen Unterprivilegierten und der kapitalistischen Wirtschafts- und Bildungselite, die eine Ahnung davon gibt, warum zum Beispiel der Frust der Einen – aufgrund ihrer verlorenen Illusionen, am Wohlstand teilhaben zu können – und die Weigerung der Anderen, gesellschaftlichen Reichtum zu teilen Gemeinsamkeiten aufweisen hinsichtlich der Abgrenzung gegenüber Migranten. Ein Aspekt, der auch uns hier in Deutschland zu denken geben sollte.
    Und noch etwas: Wenn Eribon von seinem eigenen Werdegang, von seiner Entfernung von der Familie, von den Hürden erzählt, die er zu überwinden hatte, dann kommt er immer wieder auf das Schulsystem zu sprechen. Von Thomas Bernhardt stammt der Satz, man solle das Schulsystem als etwas auffassen, durch das wir die Eingeweide der Gesellschaft betrachten können. Dem folgt Eribon, wenn er schreibt:
    "Wenn es eine Institution gibt, welche die Existenz der sozialen Klassen anerkennt, registriert, absegnet und verstetigt, dann ist es das Schulsystem. Die Klassenteilung, die ich meine, wird nicht nur durch ökonomische Ungleichheiten definiert. In ihr sind noch viel tiefere Differenzierungsmechanismen am Werk, die zwischen verschiedenen Kategorien von Individuen unterscheiden, die durch sehr früh, schon in der Kindheit einsetzende Prozesse selektiert und in der sozialen Welt verteilt werden."
    Schöne Passagen über die Großmütter
    In den schönsten Passagen von Didier Eribons Erkundung seines Selbst, seiner Herkunft und der gesellschaftlichen Bedingungen, die sie formten, erzählt er von seinen Großmüttern. Beide aus dem Arbeitermilieu, wobei die eine sich den Verhältnissen fügte, was auch hieß, sich der männlichen Dominanz zu unterwerfen, während die andere Widerstand leistete und sich alleinerziehend durchschlug. Beide bezahlten dafür einen hohen Preis.
    Auf diese Recherche ist wohl Eribons Verehrung für zuallererst Annie Ernaux, aber auch Simone de Beauvoir, Nathalie Sarraute und Marguerite Duras zurückzuführen. Diese weiblichen Intellektuellen, alle das absolute Gegenbild zu seinen Großmüttern, waren sich jedoch entweder ihrer ähnlichen Herkunft bewusst oder erhoben ihre Stimme für diese unterprivilegierten Frauen, die in der Geschichte ansonsten spurlos verschwinden.
    Der Weg von den Großmüttern, den intellektuellen Frauen, dem Feminismus und der weiblichen Selbstbehauptung in einer nach wie vor männlich strukturierten Gesellschaft ist für den homosexuellen Eribon nicht weit zu den Fragen nach Geschlecht und sexueller Determinierung.
    War Bourdieu ihm bei der Erkenntnis und Überwindung der sozialen Scham behilflich, so der Autor in "Gesellschaft als Urteil", so habe ihm Michel Foucault, ein weiterer Gewährsmann in diesem Buch, bei der Bewältigung der sexuellen Scham geholfen. Gemeinsam hätten sie Marx und Nietzsche verdrängt – und vor allen Dingen Freud und die Psychoanalyse.
    Kritik an der Psycholanalyse
    Und darum geht es in Eribons zweitem Buch, "Der Psychoanalyse entkommen", das bei uns wenige Wochen nach "Gesellschaft als Urteil" erschienen ist.
    Der französische Autor wehrt sich hier gegen die psychoanalytische Interpretationsweise, die immer an die traditionelle familiäre Ordnung angelehnt sei, sie dadurch festige und den verschiedenen Spielarten der Liebe keinen Raum lasse.
    "Bei Freud, bei Lacan, in der Psychoanalyse im Allgemeinen und beinahe per definitionem, ist die Liebe immer ein Phänomen, das erklärt werden muss. Denn für Psychoanalytiker existiert die Liebe nie an sich, für sich selbst. Sie muss immer auf vergangene Geschichte des Subjekts, seine Kindheit bezogen werden (mit Figuren des Vaters, der Mutter, mit dieser Obsession mit dem ödipalen Umklappen, von der wir noch heute so viele Beispiele kennen)."
    Dass selbst die prominentesten Vertreter der queer theory stark von der psychoanalytischen Denkweise abhängig geblieben seien, ist dem französischen Philosophen und Soziologen "schleierhaft". Und so versteht Eribon sein Buch als Manifest gegen etablierte Doktrinen, gegen konzeptuelle Raster, gegen die Ordnung der Welt als grundsätzlich heterosexuell und feiert in Anlehnung an Roland Barthes und Michel Foucault und deren Bücher "Fragmente einer Sprache der Liebe" und "Sexualität und Wahrheit" die "Sanftheit des Androgynen".
    Kein Revolutionär und Umstürzler
    Didier Eribon ist kein Revolutionär, kein Umstürzler. Eher ein sanfter Rebell. Was er in seinen beiden Büchern fordert, nämlich die Notwendigkeit einer immer wieder erneuerten theoretischen Analyse der Herrschaftsverhältnisse, um soziale und sexuelle Gerechtigkeit herzustellen, erfüllt er selbst nur bedingt.
    Eribon erzählt eher Geschichten über Herkunft, Prägungen, Außenseitertum und intellektuelle Sozialisation. Die eigene Betroffenheit ist immer spürbar und der Motor seines Schreibens. Aber gerade diese Verbindung von schonungsloser Offenbarung des eigenen Ichs mit literarischen und theoretischen Diskursen schärft den Blick für die Widersprüche in unseren Gesellschaften. Oft nur blitzhaft, aber mit langem Nachhall. Eine absolut empfehlenswerte Lektüre.
    Didier Eribon:"Gesellschaft und Urteil – Klassen, Identitäten, Wege"
    Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn, edition suhrkamp 2017, 320 Seiten. 18 Euro
    Didier Eribon: "Der Psychoanalyse entkommen"
    Aus dem Französischen von Brita Pohl. Verlag Turia + Kant, Wien – Berlin 2017, 136 Seiten. 17 Euro