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Neue Domäne des Lebens?

Virologie. - Megaviren sind zehn- bis dreißigmal größer als ein Durchschnittsvirus und infizieren gerne im Schlamm lebende Amöben. Diese Vorliebe teilen sie mit den beiden neuen Vertretern der Megaviren, die französische Forscher heute in "Science" vorstellen. Und die übertreffen von der Größe ihres Erbguts her sogar manche Bakterien und Eukaryonten und lassen so die Grenzen zwischen Viren und zellulären Organismen verschwimmen.

Von Dagmar Röhrlich | 19.07.2013
    Ursprünglich hieß der Organismus abgekürzt NLF. Das steht für "Neue Lebensform". Die erste hatten die Evolutionsbiologen der Universität Aix-Marseille in 2010 genommenen Schlammproben aus dem Meer vor Chile ausgemacht. Dort infiziert und tötet NLF Amöben, erzählt Chantal Abergel:

    "Zu unserer Überraschung schienen sie sich im Labor als nichts weniger als eine neue Lebensform zu erweisen. Es hätte ein Bakterium sein können oder ein Virus. Unter dem Mikroskop - und es war kein Elektronen-, sondern ein Lichtmikroskop - sah diese Lebensform aus wie ein großer, dunkler Fleck, von der Größer einer kleinen Bakterienzelle. Rein äußerlich ließ sich nicht sagen, was wir da vor uns hatten. Jedenfalls war der Partikel oval und besaß eine dicke Hülle. Um zwischen Virus und Bakterium zu unterscheiden, wollten wir seinen Zellzyklus verfolgen."

    Da gab es jedoch nichts zu sehen: NLF teilte sich nicht. Das nährte den Verdacht, dass es sich um ein Virus handeln könnte:

    "Wir sequenzierten das Genom, und es war mit 2,5 Millionen Basenpaaren etwa so groß wie das eines kleinen eukaryontischen Parasiten - und es war doppelt so groß wie das des bisherigen Rekordhalters unter den Megaviren. Das Wesen besitzt 2556 Gene, und zu unserer Überraschung fanden wir nur sechs Prozent davon in den Datenbanken. Was immer das war, es war nicht näher mit anderen Megaviren verwandt, und erst recht nicht mit Eukaryonten, Archäen oder Bakterien. Der größte Teil des Genoms ist noch nie sequenziert worden."

    NLF war noch nicht eingeordnet, als die Forscher einen ähnlichen Organismus in einem australischen Süßwassertümpel entdeckten. Der bringt es auf 1,9 Millionen Basenpaare oder 1502 Gene. Weitere Analysen bewiesen dann, dass es sich bei den beiden Funden um miteinander verwandte Viren handelt. Das Virus aus dem Salzwasser erhielt den Namen Pandoravirus salinus, das aus dem Süßwassertümpel Pandoravirus dulcis:

    "Wir haben sie Pandora-Viren genannt, unter anderem, weil ihre Gene so vollkommen anders sind als alles, was wir kennen. Es ist, als ob wir die Büchse der Pandora öffnen."

    Allerdings sei noch unklar, was die beiden mit ihren Genen anfangen, erklärt Chantal Abergel: Die Pandoraviren stellen weder eigene Proteine her, noch Energie. Und wie alle anderen Viren sind auch sie bei der Vermehrung auf eine Wirtszelle angewiesen:

    "Die Pandoraviren unterscheiden sich stark von den anderen bekannten Megaviren. Sie sind etwas Neues. Wir glaubten bisher, dass Viren einen Zellahnen haben, der irgendwann parasitär wurde. Nach der Entdeckung von Pandoravirus denken wir nun darüber nach, ob nicht sogar die Anfänge des Lebens komplexer waren als gedacht. Die Pandoraviren könnten von einer Ahnenzelle einer vierten Lebensform abstammen, einer vierten Domäne neben den drei bekannten - die der Archäen, der Bakterien und der Eukaryonten. Und während diese drei die Gewinner stellten, blieb der vierten keine andere Wahl, als zum Parasiten zu werden."

    Die Entdeckung dieser Pandoraviren sei bemerkenswert, urteilt Curtis Suttle von der University of British Columbia in Vancouver über die Arbeit seiner Kollegen, in die er nicht eingebunden war:

    "Die Pandoraviren sind so viel größer als selbst die größten Viren, die wir kennen und sie scheinen auf einem ganz anderen Zweig der Evolution zu sitzen."

    Curtis Suttle selbst hat kürzlich bei einem Screening im Meerwasser 120 bis dahin unbekannte Familien besonders kleiner Viren ausgemacht. Und so ist er davon überzeugt, das Viren heute das Gros der genetischen Vielfalt auf der Erde stellen.