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Neue Entfaltung für den Menschen

Kein Thema hat die Menschheit so beschäftigt wie der Tod. Das New Yorker Künstlerpaar Madeline Gins und Arakawa stellen schon seit Jahren ihre Arbeiten unter den provokanten Titel: We decided not to die! Mit unebenen Flächen, unregelmäßigen Formen, Stolperfallen und grellen Farben wollen sie die physiologische Herausforderung realisieren.

Von Michael Wetzel | 28.07.2008
    Kein Thema hat die Menschheit so beschäftigt wie der Tod. Dass wir sterben müssen, aber nicht wissen wann, lehren die Philosophen seit der Antike. Der wissenschaftliche Fortschritt der Medizin steht im alleinigen Zeichen der Erhaltung und Verlängerung des Lebens. Dass aber die Architektur ihre Aufgabe in diesen Dienst stellte, hat es noch nicht gegeben. Sicherlich, Menschwürde und Gesundheit stehen bei der Gestaltung von Häusern und Städten immer mehr im Vordergrund, aber gar die Überwindung des Todes?

    Genau das fordern aber Madeline Gins und Arakawa, das New Yorker Künstlerpaar, die schon seit Jahren ihre Arbeiten unter den provokanten Titel stellen: We decided not to die! Seit über 40 Jahren währt die Zusammenarbeit der studierten Physikerin mit dem japanischen Künstler, der 1961 nach New York kam und der letzte Schüler von Marcel Duchamp wurde. Ihr erstes gemeinsames Projekt ist der Mechanismus der Bedeutung, eine Collage aus Zeichnungen, Entwürfen und dichterischen Arbeiten, die schon 1971 ins Deutsche übersetzt wurde und unter anderem die Aufmerksamkeit des Philsophen Hans-Georg Gadamer erregte. Im weiteren Verlauf kam es zur Gründung der Architectural Body Research Foundation, in deren Rahmen sich die Entwicklung des neuen Konzepts einer Körper-Architektur vollzog, die - so ein anderer provokanter Titel - das Sterben illegal machen sollte.

    Im Jovis-Verlag hat nun Dagmar Buchwald eine deutsche Fassung der jüngsten Publikation herausgebracht. Was haben wir uns aber unter einer solchen Architektur gegen den Tod vorzustellen?

    Madeline Gins und Arakawa sind keine Traumtänzer, die mit einem absurden Heilsversprechen aufwarten, sondern ihr Ansatz ist philosophisch zutiefst durchdacht. Er setzt vor allem bei den phänomenologischen Überlegungen Merleau-Pontys zur Erfahrung von Leiblichkeit in der Auseinandersetzung mit der Umwelt an, die stark von Momenten des Berührens und der Fleischlichkeit bestimmt sind. Dagmar Buchwald verweist auch auf die nicht unbedeutenden Einflüsse von Romantikern wie Novalis, die ebenfalls an einer Überwindung des Todes durch poetische Konstruktionen gearbeitet haben. Nicht zuletzt wirken natürlich die Spuren Duchamps nach, der auf seinen Grabstein den Spruch setzten ließ: Übrigens sterben immer nur die anderen. Wichtiger ist aber sein dadaistisches Konzept der Maschine, in der sich die Idee der Konstruktion, der Erfindung einer Gegenwelt manifestiert. Bei Duchamp waren es vor allem Maschinen zur Herstellung idealer Liebesobjekt, hier sind es die architekturalen Verkörperungen einer Bauform, die das höchste Potential an Lebenskraft gegen den Tod mobilisieren soll. So formulieren die Künstler ihr Überlebensprogramm:

    "Lange haben wir beobachtet, wie sich ein Körper in seinem Lebensraum bewegt und dabei viel darüber nachgedacht, wie man ihn vielleicht anders umgeben kann. Wir selbst haben zu diesem Zweck bereits einige neue Umgebungen konstruiert. Uns ist klar geworden, dass wir dabei die ganze Zeit einem architektonischen Körper auf der Spur waren - oder zumindest einer eigenen Landschaft dafür. Deshalb verstehen wir Architektur nicht bloß als das, was herumsteht und mit dem man verbunden ist, nicht als Struktur, derer sich das Leben leichhin und en passant bedienen kann. Für uns ist Architektur nicht passiv, nicht etwas, das passiert, das irgendwie da ist und uns mit einem bloßen Dach über dem Kopf oder etwas Monumentalem versorgt - wir glauben, Architektur, so wie wir sie hier neu entwerfen, nimmt ganz aktiv am Leben und am Sterben teil."

    In diesem Sinne wird ein Anforderungskatalog an ideale, organisch-lebendige Körperarchitektur aufgestellt, die dem agierenden, dem laufenden aber auch sprechenden Körper sich wie neue Häute anschließt. Es geht darum, eine Umwelt zu schaffen, die eine geschickte Koordinierung körperlicher Handlungen erlaubt und ihnen auch als Maßeinheit angepasst ist, um dem Organismus seine Schwungkraft als Person zu geben und zu erhalten. Die hierfür nötige taktile und haptische Orientierung der Person in ihrer Umwelt wird im Konzept der so genannten Landeorte als wahrnehmungsmäßige Positionierung, zu der es heißt:

    "Der Körper ist verortet und findet statt. Da er dasjenige ist, vom dem alles Zeigen, Wählen, Bestimmen, Entscheiden und Denken ausgeht, lässt sich von ihm sagen, dass er der Urheber (sprich: Mit-Urheber) aller Orte oder Stätten ist. Organismus-Person-Umwelt besteht aus Orten und Möchtegern-Orten. Eine Organismus-Person, ein verorteter Körper, lebt als ein Ort, der aus vielen Orten besteht, zum Beispiel kann man die eigenen Arme und Beine als Teil eines einzigen Ortes (des Körpers) betrachten oder es vorziehen, sie als zwei Orte zu bestimmen (einen Bereich der oberen Extremitäten und einen Bereich der unteren Extremitäten) ... "

    Ähnliche Überlegungen gibt es zur Seh-Orientierung in Gestalt der Theorie der Gaze-Brace, der Blick-Anker. So definiert sich eine Biosphäre des Wohnens, die Madeline Gins und Arakawa auch als Bioscleave bezeichnet - abgeleitet vom Englischen "cleave" gleich "anhaften" "kleben" und "trennen/aufspalten". Dem Organismus sollen Anhaftmöglichkeiten ohne Verschmelzung geboten werden, und im Modell der Schnecke, die ihr Haus mit sich trägt, soll der Mensch zu neuen Entfaltungen kommen.

    Bleibt die Frage nach der Realisierung solcher Ansprüche. Gebaut haben die Künstler schon einiges, so haben sie den Erlebnispark für die Weltausstellung 2005 in Nagoya gestaltet und im Tokyoter Stadtteil Mikata eine Reihe von Stapelhäusern gebaut. Mit unebenen Flächen, unregelmäßigen Formen, Stolperfallen und grellen Farben sollen sie die physiologische Herausforderung realisieren. Die dem Buch beigegeben Bilder geben Einblick in diese Projekte. Ihre lebensverlängernde Wirkung ist allerdings noch nicht unter Beweis gestellt.


    Bibliographie
    Madeline Gins und Arakawa: Niemals sterben Architektur gegen den Tod.
    Hg. v. Dagmar Buchwald, Reihe: architektur:positionen, Berlin 2008 (Jovis Verlag),
    119 S. (zahlreiche teils farbige Abb.)