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Abgründe einer Familie

Ein "surrealistisches Meisterwerk", Vergleiche mit Ulrich Seidl oder Michael Haneke: Das verstörende Debüt "Ich seh Ich seh" des österreichischen Autorenduos Veronika Franz und Severin Fiala hat die Kritik zu hochkarätigen Vergleichen provoziert. Ab dieser Woche kann sich auch das breite Publikum ein Bild machen - starke Nerven vorausgesetzt. Außerdem neu im Kino: "Men & Chicken" sowie "Liebe auf den ersten Schlag".

Von Hartwig Tegeler | 01.07.2015
    Szene aus dem Film "Ich seh Ich seh" von Veronika Franz und Severin Fiala.
    Die Zwillinge Lukas und Elias Schwarz spielen die Hauptrollen im Film "Ich seh Ich seh" von Veronika Franz und Severin Fiala (Ulrich Seidl Film Produktion GmbH)
    "Ich seh Ich seh" von Veronika Franz und Severin Fiala
    Ist sie die Mutter? Oder nicht? Die zehnjährigen Zwillinge sehen die Frau nach ihrer Schönheits-OP wieder. Mit bandagiertem Gesicht. Sie ist gemein, ungerecht geworden.
    "Runtergehen zur Waschmaschine und Ausziehen. Und unter die Dusche. Dalli."
    Doch wieso ignoriert sie den einen der Zwillinge fortwährend?
    Am Anfang von "Ich seh Ich seh", Severin Fialas und Veronika Franz' Film über die Abgründe einer Familie.
    "Seit wann sperren wir Türen zu?"
    "Guten Abend, gute Nacht", singt Ruth Leuwerik. "Guten Abend, gute Nacht" aus dem Heimatfilm "Die Trapp-Familie" von 1956. Dies Lied wird hier, zitiert in "Ich seh Ich seh", zum Soundtrack einer Höllenfahrt.
    "Du bist nicht unsere Mama. - Aufs Zimmer. Ich habe es so satt! - Zeig uns halt das Muttermal. - Ich hab´s so satt. - Zeig uns das Muttermal."
    Aber das Muttermal ist weg. Dann, in der zweiten Hälfte des Films werden dann die Übergänge zwischen Psychohorror und Gewalt fließend.
    "Sag uns, wo unsere Mama ist. - Ich bin eure Mama."
    Ohne Frage: Der Film fordert auch dem hart gesottenen Kinogänger Einiges ab. Er ist brutal, wenn die Gewalt aus dem Inneren der Familie hervorbricht und alles kühl und explizit gezeigt wird wie die aus dem Körper herauskriechenden Kakerlaken. Oder wenn die Zwillinge ihrer Mutter mit Sekundenkleber den Mund zukleben.
    "Wo ist unsere Mama?"
    Und doch ist diese Gewalt kein Selbstzweck, kein Effekt. Dieser Film erinnert an Ulrich Seidl und Michael Hanecke, die beiden anderen stilbildenden österreichischen Filmemacher. "Ich seh Ich seh" ist verstörendes Kino und in seiner Logik eines Albtraums ein radikaler Blick auf Welt und Familie.
    "Ich seh Ich seh" von Veronika Franz und Severin Fiala - empfehlenswert.
    "Men & Chicken" von Anders Thomas Jensen
    Auch der Däne Anders Thomas Jensen erzählt die Geschichte einer Familie. Nun ist es vielleicht keine Überraschung, dass es sich bei einem Filmemacher wie Jensen mit der Normalität in Grenzen hält. Immerhin landeten zwei Metzger-Brüder in Jensens Film "Dänische Delikatessen" von 2003 einen Gourmet-Hit mit dem Verkauf von Menschenfleisch. Einer dieser beiden Brüder war Mads Mikkelsen. In "Men & Chicken" spielt Mikkelsen einen von fünf Halbbrüdern.
    "Franz! Franz! Komm mal her!"
    Elias und Gabriel suchen ihren leiblichen Vater und treffen in einem heruntergekommenen Schloss auf drei seltsame Typen.
    "Er sagt auch, wir sind alle Brüder. - Ja. - Ich will nicht, dass ihr mich unterbrecht. (Schlag.) - Entfernen Sie sich aus dieser Situation, der Konflikt ist gelöst. Fahren Sie zurück zum Krankenhaus. - (Schlag.)"
    Klar wird, dass der Vater der fünf eine Art Mad Scientist war, ein Gen-Ingenieur, für den die Artengrenzen nicht galten. Jetzt hat er das Zeitliche gesegnet. Nicht allerdings seine skurrilen Kreationen. Wobei wir wieder bei den fünf Halbbrüdern und einer, wie gesagt, nicht gerade normalen Familie wären. Anders Thomas Jensen provoziert mit "Men & Chicken" genüsslich den ´guten Geschmack´ mit seinen ein wenig widerlichen Figuren, die am Ende aber sehr menschlich sind, auch wenn sie sich auf die Birne hauen.
    Und doch wirken Schock und Ekel in dieser schrägen Familienzusammenführung - denn darum geht es am Ende -, sie wirken zu gezielt, zu kalkuliert. Wie Effekt und Selbstzweck.
    "Men & Chicken" von Anders Thomas Jensen: Annehmbar.
    "Liebe auf den ersten Schlag" von Thomas Cailley
    "Ich schlage mich nicht mit Mädchen. - Hier schlägt sich keiner mit keinem. Das ist ein Selbstverteidigungskurs. - Fangt an!"
    Und dann schlägt Arnaud Adèle zwar nicht, aber beißt ihr in den Arm. Eine Liebesgeschichte, die auch nicht so ganz "normal" ist. Thomas Cailley erzählt in "Liebe auf den ersten Schlag" von einer Widerspenstigen, die am Ende nicht gezähmt wird, weil´s nichts zu zähmen, sondern nur zu akzeptieren gibt. Madeleine - wunderbar gespielt von Adèle Haenel - ist sich sicher: Das Ende der Zivilisation steht bevor. Deswegen ist Überlebenstraining für sie alles; deswegen will sie zu einer Spezialeinheit:
    "Die haben die besten Überlebenstechniken. Danach bin ich wirklich vorbereitet. - Worauf vorbereitet? - Aufs Überleben."
    Arnaud seinerseits ist nun ein sanftmütiger Tischler, der sich in Adèle verliebt und deswegen zum gleichen Wochenendkurs geht.
    "Die Situation ist diesmal kritisch und erfordert entschiedenes Handeln. Was würdest du machen? - Wir verteilen uns. - Das ist interessant. - Das war eigentlich alles. Rette sich, wer kann."
    Aber da Adèle auch vor den Herren Offizieren ihre Kratzbürstigkeit an den Tag legt, landen die beiden in der zweiten Hälfte des Films, nun ja, halb freiwillig allein im Wald. Und dürfen Überleben trainieren. Thomas Cailley lässt in seine Liebesgeschichte Momente der Apokalypse einfließen. Einmal fragt sein Bruder Arnaud:
    "Glaubst du an ihr Weltuntergangsszenario? - Na ja, es ist am Ende nicht so weit hergeholt."
    So erzählt "Liebe auf den ersten Schlag" eine zarte Liebesgeschichte - mit ein paar Boxeinlagen zugegeben -, aber gleichzeitig zeichnet Thomas Cailley das Bild einer verunsicherten Generation, die mit der wirtschaftlichen und sozialen Krise aufgewachsen ist.
    "Liebe auf den ersten Schlag" von Thomas Cailley - empfehlenswert.