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Neue Filme
Eine Sache des Herzens

Wie ein Herz den Weg vom Organspender zum -empfänger findet, wie Kate Winslet und Idris Elba ihr Herz aneinander verlieren, wie die Arbeit zur Herzensangelegenheit einer Lehrerin wird – darum geht es in den neuen Filmen der Woche.

Von Jörg Albrecht | 06.12.2017
    In "Miss Kiet's Children" wird die Integrationsklasse in einem kleinen Ort nahe Eindhoven mit den stilistischen Mitteln des Direct Cinema porträtiert.
    In "Miss Kiet's Children" wird die Integrationsklasse in einem kleinen Ort nahe Eindhoven mit den stilistischen Mitteln des Direct Cinema porträtiert. (Petra Lataster / Peter Lataster)
    "Spendernummer 89775. Ein Herz, eine Leber und zwei Nieren."
    Das Verfahren ist eingeleitet. Vier zur Verfügung stehende Organe eines hirntoten Jugendlichen werden zur Transplantation freigegeben und verschiedenen Patienten zugewiesen. Abgesehen von der treibenden Klavieruntermalung Alexandre Desplats wird dieser Vorgang in aller Sachlichkeit geschildert. Obwohl das auch für die meisten anderen Szenen gilt, ist der Französin Katell Quillévéré mit "Die Lebenden reparieren" ein ergreifender Film geglückt. Die Regisseurin protokolliert präzise den Weg eines Spenderherzens durch das Geflecht der Personen, die an dem Prozedere beteiligt sind.
    "Aber ich habe sein Herz schlagen hören." / "Ja, das stimmt. Sie haben sein Herz gehört. Es schlägt weiter. Aber wenn wir die Geräte abschalten, bleibt sein Herz stehen."
    Nüchterne Erzählweise mit starker Suggestionskraft
    Der 17-jährige Simon hat die tödlichen Verletzungen bei einem Autounfall erlitten. Nach kurzer Bedenkzeit werden seine verzweifelten Eltern einer Organentnahme zustimmen. Dann folgt ein Perspektivwechsel und wir lernen Claire kennen. Ihr Gesundheitszustand hat sich rapide verschlechtert. Nur ein Spenderherz kann die Mutter von zwei erwachsenen Söhnen noch retten.
    "Sie wissen, was ich Ihnen jetzt sagen werde?" / "Ja. Ich weiß nicht, ob ich mit dem Herzen eines Toten leben will." / "Ist Ihnen klar, dass das Ihre letzte Chance ist?"
    Claire und ihre behandelnde Ärztin sowie Simon und seine Eltern mögen zwar die Hauptpersonen in "Die Lebenden reparieren" sein, aber auch die Nebenfiguren bekommen Konturen. Katell Quillévérés filmische Komposition entfaltet gerade durch ihre nüchterne Beobachtung eine stärkere Suggestivkraft, als es ein Melodram je vermocht hätte.
    "Die Lebenden reparieren": herausragend
    Das Herz sei nur ein Muskel, analysiert Ben irgendwann in "Zwischen zwei Leben - The Mountain Between Us". Er muss es wissen. Ben ist schließlich Arzt. Am Ende des Films wünschte man sich, er hätte Recht behalten und sein Herz in der Zwischenzeit nicht als Sinnbild der Liebe entdeckt und an seine Begleiterin, die Journalistin Alex, verloren.
    "Mach bitte ein Foto von mir!" / "Was?" / "Ich will, dass du ein Foto von mir machst, falls ich sterben sollte." / "Ich kann kein Bild von dir machen. Tut mir leid."
    Furchteinflößende Liebe
    Wenn es ganz schlecht läuft, werden Alex und Ben das hier nicht überleben. Die beiden Fremden sind mit einem Kleinflugzeug in den schneebedeckten Rocky Mountains abgestürzt, haben schon Begegnungen mit einem Puma und dem Abgrund gemacht und versuchen sich jetzt Richtung Zivilisation durchzuschlagen. Die attraktive Paarung von Kate Winslet und Idris Elba als Alex und Ben lässt schon erahnen: Der Streifen hat mehr mit "Before Sunrise" gemeinsam als mit einem Survival-Thriller. Das Sinnieren über das Leben lässt nicht nur das Eis zwischen den beiden brechen.
    Zum 20. Jahrestag von "Titanic" muss Kate Winslet erneut aus eisigem Wasser gerettet werden. Ihr unterkühlter Körper wird mit Sex vor dem Kamin der zum Glück bereitstehenden Hütte wieder auf Normaltemperatur gebracht, wobei der BH trotz Schockgefrieren nicht abgelegt werden darf. Selbst Schauspieler vom Format einer Kate Winslet und eines Idris Elba haben keine Chance gegen ein Drehbuch, in dem die aufkeimende Liebe furchteinflößender wirkt als die menschenfeindliche Umgebung.
    "Zwischen zwei Leben - The Mountain Between Us": enttäuschend
    Auf den ersten Blick eine ganz normale Schulklasse in den Niederlanden mit Mädchen und Jungen, die Lesen und Schreiben lernen. Allerdings nicht in ihrer Muttersprache. Die ist nämlich für keines der Kinder Niederländisch. Die Schüler, die von der Lehrerin Miss Kiet unterrichtet werden, sind Flüchtlingskinder aus Syrien und dem Irak. So wie die sechsjährige Leanne, die neu zu der Klasse stößt.
    Eine Herzensangelegenheit
    Petra Lataster und ihr Mann Peter porträtieren in "Miss Kiet's Children" die Integrationsklasse in einem kleinen Ort nahe Eindhoven mit den stilistischen Mitteln des Direct Cinema. Sie sind also reine Beobachter, und das stets auf der Augenhöhe ihrer kleinen Protagonisten. Darin ähnelt ihr Film der Dokumentation "Sein und Haben" aus dem Jahr 2002 über eine französische Grundschule.
    Dass er gelingen kann - der Neuanfang für die Kinder, von denen manche Schreckliches in ihrer Heimat erlebt haben -, ist nicht zuletzt dem Idealismus einer Lehrerin wie Miss Kiet zu verdanken, die ihren Beruf mit großem Einfühlungsvermögen, Geduld, aber auch Beharrlichkeit zu einer Herzensangelegenheit gemacht hat.
    "Miss Kiet's Children": empfehlenswert