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"The Lobster", "The Neon Demon" und "Sworn Virgin"

Von Hartwig Tegeler | 22.06.2016
    "Haben sie Kinder, Sir?"
    Einchecken in ein Hotel der ganz anderen Art, im Film "The Lobster". Wer hier nach 40 Tagen noch ohne Partner ist, wird in ein Tier verwandelt.
    "Und der Hund? - Er war vor zwei Jahren hier, hat es aber nicht geschafft. - Okay."
    David - gespielt von Colin Farrell - will dem Schicksal seines Bruders entgehen und erobert mit Liebesgesäusel eine Frau. Allerdings hat die genauso getrickst wie David, um der Verwandlung zu entgehen. Schlechte Aussichten für eine Ehe. Auf Dauer jedenfalls. - Erzählte Yorgos Lanthimos in seinem Filmdebüt "Dogtooth" von 2009 von einer Familie, durchzogen von Inzest- und Machtspielen, weitet der griechische Regisseur in "The Lobster" diesen Blick aus auf die gesamte Gesellschaft. Utopien haben für Lanthimos ausgespielt; das Individuum zählt nichts mehr; es wird bestimmt durch anonyme Mächte. David flieht aus der Hotelkaserne,…
    "Er rannte los, ohne zu wissen wohin. Aber er lief zu uns."
    …trifft in den Wäldern auf eine Gruppe von Dissidenten. Diese sogenannten Einzelgänger praktizieren aber das Gleiche wie die Hotel-Diktatoren, denen er entfloh, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen. Im Hotel mussten alle Paare bilden; im Wald hat man Single zu bleiben bei Drohung drakonischer Strafen.
    "Was ist der rote Kuss? - Wir haben seine Lippen mit einer Rasierklinge aufgeschnitten. Und die einer anderen Einzelgängerin aus. Und sie dann gezwungen, sie zu küssen."
    "The Lobster" - wunderbar gespielt von Colin Farrell, Rachel Weisz, Léa Seydoux oder Ben Wishaw - ist ein ungewöhnlicher, überraschender Film voller Schichten, die es zu entdecken gilt.
    "The Lobster" von Yorgos Lanthimos - im Kino und auch schon auf DVD bzw. als VideoOnDemand erhältlich - herausragend.
    "Das ist Jesse. - Schon Erfahrungen auf dem Laufsteg? - Nicht so richtig. - Dann zeigt uns mal deinen ´walk´, Liebes."
    Nicht originell die Geschichte von "The Neon Demon", keine Frage. Aber die Ausführung dieser Story über die 16-jährige Unschuldige, die in L.A. Karriere machen will, sie sprengt die Leinwand. Die Art, wie Nicolas Winding Refn seine Geschichte in kaltem Licht, in der Atmosphäre kalter Obsessionen, basierend auf eiskaltem Geschäftssinn präsentiert, das ist grandios. Es geht zunächst um die glatte Oberfläche, die Künstlichkeit der Model-Welt, die Nicolas Winding Refn penetrant quasi zitiert.
    "JJ ist gerade aus der Werkstatt gekommen. - Du hast dich operieren lassen. - Bei dir klingt es, als wäre es was Schlechtes. - Schönheits-OPs sind nur gute Körperpflege."
    Ein Horror-Märchen über die Schönheit ist "The Neon Demon", sagt sein Macher:
    Nicolas Winding Refn: "… a horror-movie about beauty …
    Horror Movie – über die Schönheit. Nicolas Winding Refn zeigt durchaus plakativ, wie in den kalten Industrie-Bildern über Körper, die Kunst wie Schönheit vorgaukeln und zum Begehren einladen; Bilder, in ihnen sind die Körper verloren gegangen. Entkörperlichte Welt, die alles tut, die Vergänglichkeit zu verdrängen. Nicolas Winding Refn, der auch in seinen vorherigen Filmen wie "Drive" oder "Only God Forgives" nicht gerade zart mit uns Kinogängern umging, holt die natürlichen Körper in einer Explosion von Gewalt zurück, wenn Jesse ...
    "Du hast diesen Blick, diese verschreckten Reh-Augen. "
    … die junge Naive aus der Provinz, ...
    "Das ist genau das, was sie wollen."
    … wenn Jesse in einen - sprichwörtlich - mörderischen Konkurrenzkampf gerät. Blut spritzt. Dient als Getränk. Oder als Makeup. Ein Auge wird ausgerissen, gegessen, erbrochen und wieder gegessen. Es gibt eine Nekrophilie-Szene, in der paradoxerweise der welke tote Frauen-Körper Kontrapunkt scheint zur künstlichen Bio-Maschine der Models, immer noch Körper genannt. Doch "The Neon Demon" ist - auch wenn das hier so klingen mag - kein Thesen-, sondern im Kern ein Erfahrungsfilm. Radikal, verstörend, kaum anzusehen. Mit diesem Film tritt Winding Refn an die Seite von Luis Bunuel, David Lynch, Alexandro Jodorowsky oder Lars von Trier.
    "The Neon Demon" von Nicolas Winding Refn - herausragend.
    "Sworn Virgin" (alb. Original)
    Man trinkt nicht vor einem Mann, erklärt die Mutter im Film "Sworn Virgin". Man raucht nicht als Frau. Man rührt kein Gewehr an. Man spricht nicht vor einem Mann. Und so weiter. Doch Hana, gespielt von Alba Rohrwacher, wird genau das Gegenteil tun: Sie wird zu Mark, einer eingeschworenen Jungfrau. So bezeichnet die Gemeinschaft in den albanischen Bergen Frauen, die nicht in der traditionellen Frauen-Rolle leben wollen. "Sworn Virgin", der Film der italienischen Regisseur Laura Bispuri, erzählt von ihrer Flucht aus den Bergen zur Cousine nach Mailand und der dann folgenden, quälenden, ambivalenten und spannenden Suche einer Frau nach ihrer Rolle im Leben als Frau. "Sworn Virgin" ist ein Film, der in seiner Erzählung immer wieder hakt. Doch Alicia Rohrwachers Darstellung ist so betörend und berührend, dass bestimmte Unbeholfenheiten des Films am Ende nicht ins Gewicht fallen.
    "Sworn Virgin" von Laura Bispuri - empfehlenswert.