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Von Gehörlosen und Vergesslichen

Wer Julianne Moore in "Stille Alice - Mein Leben ohne gestern" sieht, wird zugeben müssen, dass sie den Oscar, der ihr vor zwei Wochen für ihre Rolle als an Alzheimer erkrankte Linguistin überreicht wurde, berechtigt war. Auch in "Verstehen Sie die Béliers?" geht es um körperliche Handicaps.

Von Hartwig Tegeler | 04.03.2015
    "Chappie" von Neill Bloomkamp
    Was macht einer, eine, wenn sie nichts zu spielen bekommen in dem Film, in dem sie spielen? Klar! Abgeliefert werden Standards und Stereotypen, was man sich über Jahre so angeeignet hat. Dabei wird in Neill Bloomkamps neuem Film "Chappie" leider deutlich, dass "Slumdog-Millionaire"-Star Dev Patel nicht viel mehr zu bieten hat als aufgerissene Augen, wenn er einen Roboter-Entwickler spielt.
    "Das ist ein neues Projekt, an dem ich arbeite. Es gibt dem Roboter einen Verstand, wie ein Mensch."
    "Wolverine"-Hugh-Jackman als Dev Patels übler Gegenpart guckt hingegen böse und geht breitbeinig. Sigourney Weaver als beider Chefin im Unternehmen, das Polizei-Roboter herstellt, guckt verwirrt, manchmal zynisch. Ein Jammerspiel, denn Neil Bloomcamp hat für seine Stars eben nichts zu spielen, in der Story über den Polizeiroboter, der von seinem Schöpfer - Dev Patel - mit künstlicher Intelligenz ausgestattet wird, aber in die Hände einer Gang fällt. Die bilden ihn weiter aus zum 'Gangsta', mit 'A', auch wenn er am Anfang noch lieber mit Puppen spielt.
    "Gangsta No. 1, uuuuhhh!. - Was ist das? - Das ist Mami! - Chappie, wenn du in der Gang sein willst, dann musst du cool sein, wie Daddy!"
    Das südafrikanische Ambiente gibt "Chappie" den Reiz des Ungewöhnlichen wie schon seinerzeit Neil Bloomkamps Debüt "District 9" von 2009 oder dem unterschätzten Nachfolger "Elysium". Wir bekommen keine Los-Angeles-Bilder von der Stange. Gut, doch diese Mischung aus "Robcop" und "Nr. 5 lebt" und Gangsta-Mit-A-Rap-Video ist keine interessante Auseinandersetzung mit dem uralten Mensch-Maschine-Bewusstsein-Thema, sondern vergeigter Murks. Dabei war "District 9" ein Meisterwerk des Science-Fiction-Films.
    "Chappie" von Neill Bloomkamp - fahrig, motzig, kurzweilig, aber auch sehr enttäuschend.
    "Still Alice – Mein Leben ohne gestern" von Richard Glatzer und Wash Westmoreland
    "Wer nimmt uns ernst, wenn der Mensch, der wir einst waren, sich immer weiter entfernt."
    Da hat Julianne Moore in "Still Alice - Mein Leben ohne gestern" schon etwas zu spielen, und zwar eine Menge. Der Oscar für die beste weibliche Hauptrolle, den sie vor zwei Wochen bekam, ist berechtigt. In "Still Alice" spielt Julianne Moore eine Linguistin, die mit 50 Jahren an Alzheimer erkrankt.
    "Wie ist das so? Wie fühlt sich das eigentlich an? - Jetzt hängen die Wörter manchmal direkt vor mir. In der Luft, aber ich kann sie nicht erreichen, und ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Und nicht, was ich als Nächstes verliere."
    Die Darstellung einer Kranken oder eines Behinderten ist im Kino ein Selbstgänger und bleibt doch ambivalent. Man erinnere sich nur an Dustin Hoffman in "Rain Man" oder François Cluzet Spiel als Querschnittsgelähmter in "Ziemlich beste Freunde". Aufmerksamkeit und Betroffenheit sind solchen Darstellungen gewiss, aber die Gefahr des Überspielens ist auch immer da. Doch während Eddie Redmaynes Körpernachahmung von Stephen Hawking - in diesem Jahr ebenfalls mit dem Oscar ausgezeichnet – für mich etwas Obszönes hat - ein Gesunder imitiert einen Kranken bis zum letzten Sabbern -, ist Julianne Moores Darstellung der Alzheimer-Erkrankten viel eindrucksvoller. Denn Julianne Moore konzentriert sich in ihrem Spiel ganz auf das Gefühl der Verzweiflung, wenn der Mensch körperlich lebt, aber geistig wegdämmert, immer mehr, immer weiter.
    "Still Alice – Mein Leben ohne gestern" von Richard Glatzer und Wash Westmoreland - intensiv, anrührend, empfehlenswert.
    "Verstehen Sie die Béliers?" von Éric Lartigau
    Oh ja, sie haben doch ein ziemliches Gespür dafür, die Franzosen, die großen Probleme des Lebens in gut erzählte, die dunkle Tragik des Lebens geschickt dabei vermeidende Geschichten zu verpacken. Jedenfalls ist die Frage "Verstehen Sie die Béliers?" eine rhetorische, als wir Gigi, Rodolphe und ihre Kinder Quentin und Paula wohl kaum verstehen würden, wenn die dynamisch in Gebärdensprache kommunizieren. Paula ist als Einzige aus der Familie nicht gehörlos und hat im Laufe der Jahre die Aufgabe übernommen, gegenüber den "Normalen" zu übersetzen. Auch beim Gynäkologen:
    "Außerdem sollten Sie eine gewisse Zeit keinen Geschlechtsverkehr haben." – "Was heißt, nicht damit einverstanden. Aber ihr könnt euch doch wohl mal zurückhalten. Ihr seid doch keine Tiere. Wirklich." – "Ich glaube, sie haben es verstanden."
    Die Béliers sind also eine lebensfrohe, selbstbewusste Familie, was sich auch darin zeigt, dass der gehörlose Vater Rodolphe als Bürgermeister amtiert, weil er den Amtsinhaber ekelerregend findet. Das nennt man eine gesunde Portion Eigensinnigkeit. Dann allerdings entdeckt Tochter Paula ihr Gesangstalent. Soll sie nach Paris ans Konservatorium gehen?
    "Was mache ich mit meinen Eltern?" – "Ach, hör doch auf. Sie sind doch keine Kleinkinder. Was haben sie denn gemacht, bevor du da warst."
    Die Lösung des Problems erscheint in "Verstehen Sie die Béliers?" zwar ein wenig wie am Reißbrett entworfen. Im Gegensatz zu Neill Blookamps "Chappie" wird hier aber ein schauspielerisches Feuerwerk allerster Güte abgefeuert. Und das lässt einen im Kino viel vergessen.
    "Verstehen Sie die Béliers?" von Éric Lartigau - empfehlenswert.