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Neue Intendantin der Berliner Philharmoniker
Mut zum Aufbruch

Ein renommiertes und selbstbewusstes Orchester wie die Berliner Philharmoniker zu führen, ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Doch die neue Intendantin Andrea Zietzschmann verfügt über einen reichen Erfahrungsschatz und fühlt sich gut gerüstet.

Von Marcus Stäbler | 11.10.2016
    Musik: Beethoven, Eroica
    Andrea Zietzschmann ist eine Spezialistin für den Aufbruch, für die Bereitschaft, neue Wege zu erkunden. Das hat sie schon an mehreren Stationen ihrer Karriere unter Beweis gestellt. Die Managerlaufbahn von Andrea Zietzschmann begann 1997, als sie erst 27 Jahre alt war. Gemeinsam mit ehemaligen Mitgliedern des Gustav Mahler Jugendorchesters gründete sie das Mahler Chamber Orchestra – ein mutiger Schritt ins Ungewisse:
    "Es war damals wirklich naiv und risikofreudig. Wir haben uns das gar nicht richtig bewusst gemacht, sondern waren einfach besessen von der Idee, dass wir weiter zusammen spielen wollen. Zehn, zwölf Musiker haben sich gesagt, das schaffen wir irgendwie. Und wir hatten wirklich kein Geld. Das einzige, was wir als Startschuss hatten, war eine Konzertgage von Abbado, die er mir zur Verfügung gestellt hat, und die Verbindung zu ein paar wichtigen Festivals. Aber letztendlich haben wir schon alles alleine auf die Bahn gebracht. Keiner hat etwas verdient im ersten Jahr, wir haben versucht uns über Wasser zu halten, und nach und nach gab es dann eine Struktur, dass wir auch davon leben konnten."
    Der Auftakt zur Erfolgsgeschichte des Mahler Chamber Orchestra und der Kulturmanagerin Andrea Zietzschmann. Aus dem Studium der Musikwissenschaft und der Betriebswirtschaftslehre bringt die gebürtige Schwäbin die fachlichen Grundlagen mit, aus dem langjährigen Geigenspiel kennt sie die Orchesterpraxis und kann sich in die Situation der Musiker hinein fühlen.
    Claudio Abbado als Mentor
    Diese Erfahrungen, ihre Leidenschaft für die Sache und ein feines Gespür für Menschen bilden ideale Voraussetzungen für die Aufgaben einer Orchestermanagerin – das erkannte auch Claudio Abbado, der ihr sagte:
    "Du hast hier eine Riesenbegabung, schau mal, dass Du das weiter machst!"
    Abbado, damals Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, förderte Zietzschmanns Arbeit beim Mahler Chamber Orchestra und wurde ihr wichtigster Mentor.
    "Das war für mich schon die Instanz, die mich über zehn Jahre begleitet hat und auch immer ein Ohr hatte, was man sich vielleicht gar nicht so vorstellen kann. Aber er war da immer sehr generös, Karrieren zu unterstützen oder ein Ohr für eine Aussprache zu haben."
    Musik: Webern mit Abbado
    Durch den regen Austausch mit Claudio Abbado war Andrea Zietzschmann schon damals Dauergast in der Berliner Philharmonie – doch ihre nächsten Aufgaben führten sie erst für zehn Jahre nach Frankfurt und dann nach Hamburg. 2013 übernahm Zietzschmann die Leitung der Ensembles und Konzertreihen beim Norddeutschen Rundfunk. Und auch dort trägt ihre Arbeit in mehrerlei Hinsicht Züge des Aufbruchs: in die zeitgenössische Musik, die sie stärker ins Zentrum der Konzertprogramme rückt, aber auch in eine neue Heimat. Denn das Sinfonieorchester – prominentester Klangkörper des NDR – zieht während ihrer Amtszeit in die Elbphilharmonie um und wird dort ab Januar 2017 Residenzensemble mit dem Namen NDR Elbphilharmonie Orchester.
    Musik: Beethoven mit Hengelbrock
    "Das ist für das Orchester eine ganz besondere Zeit. Wir haben die ersten Proben erleben dürfen im großen Saal: Das wird spektakulär, das ist ein Bauwerk, wie es sonst nirgends existiert, und es klingt sehr gut und jetzt geht’s los und man kann sich freuen und genießen. Insofern hätte ich das gut und gerne auch noch zwei Jahre oder länger mitgestaltet, aber man kann sich ja Zeitläufe auch nicht immer aussuchen..."
    Deshalb konnte und wollte Andrea Zietzschmann das Angebot aus Berlin trotz der spannenden Perspektive in Hamburg nicht ausschlagen.
    Aufbruch in eine neue Ära
    "Die Berliner Philharmoniker sind halt die Berliner Philharmoniker. Das ist ein Ausnahmeorchester, bei dem es keine Grenzen nach oben gibt, künstlerisch ist alles möglich. Ich freue mich sehr auf die eine Spielzeit zusammen mit Sir Simon Rattle, von dessen Erfahrungen ich profitieren kann, und dann den Übergang zu gestalten in die neue Ära Kirill Petrenko. Ich glaube, das wird eine spannende Zeit und eine große Aufgabe für das Orchester und uns alle als Team."
    Musik: Scriabin mit Petrenko
    Mit dieser großen Aufgabe sind die Vorgänger von Andrea Zietzschmann nicht immer glücklich geworden. Als gleichermaßen selbstbewusstes und selbstverwaltetes Orchester haben die Berliner Philharmoniker eine ganz eigene Struktur und ein Mitspracherecht bei allen wichtigen Entscheidungen. Damit sind die Machtbefugnisse der Intendanten viel stärker eingeschränkt als bei anderen Orchestern – aber auf diese Herausforderung ist Andrea Zietzschmann vorbereitet, wie sie gelassen erklärt.
    "Man sagt ja immer, man habe als Intendant oder Intendantin nicht so viel zu sagen bei den Berliner Philharmonikern. Ich glaube, man hat in jeder Funktion sehr große Gestaltungsspielräume. Es ist immer die Frage, wie man das angeht. Natürlich habe ich mir diese Frage auch gestellt – aber ich bin jetzt seit über 20 Jahren im Orchestermanagement und habe alle Organisationsformen kennen gelernt, die es gibt: Ein freies Orchester, sehr demokratisch organisiert, wie das Mahler Chamber Orchestra, dann bin ich in Konstrukte gekommen, die tariflich organisiert waren, da bin ich wirklich gut gewappnet. Und wenn ich auf meine jetzige Tätigkeit beim NDR blicke: Das ist eine Vier-Länder-Anstalt, da sind sehr viele Interessen, man hat vier Länderparlamente, unterschiedliche Herangehensweisen und Vorstellungen, wo man die Orchesterensembles einsetzt. Auch da habe ich es natürlich mit sehr vielen unterschiedlichen Interessen zu tun, die ich zusammen führen muss. Insofern habe ich auch in den letzten drei Jahren viele Erfahrungen gesammelt."
    Musik: Scriabin
    Ihr reicher Erfahrungsschatz kommt Andrea Zietzschmann bei der neuen Aufgabe ebenso zugute wie ihr kollegiales Berufsverständnis. Natürlich kann sie beharrlich sein und hat ihre eigenen, klaren Vorstellungen – aber die vermittelt sie ihren Gesprächspartnern auf Augenhöhe und mit viel Empathie für die Perspektive des Künstlers. Machtspiele und präsidiales Gebaren interessieren die Managerin nicht; sie tritt grundsätzlich eher zurückhaltend auf und macht überhaupt keinen Wind um sich selbst. Ihr geht es nur um die Musik. Mit dieser Haltung ist Zietzschmann eine ideale Partnerin für den designierten Chefdirigenten Kirill Petrenko, den sie in einem Vorgespräch als Geistesverwandten kennen gelernt hat.
    "Ich denke, das ist die Grundvoraussetzung, dass man ein gutes Team ist, dass man die gleiche Geisteshaltung hat und das Gleiche will. Wir haben uns da vergewissert, dass das gut passen kann."
    Dass Kirill Petrenko genau der richtige Taktgeber für den Aufbruch der Berliner Philharmoniker ist, steht für Andrea Zietzschmann außer Frage.
    "Er ist jemand, der sich so intensiv mit Partituren, mit der Musik auseinandersetzt, wie kaum jemand sonst. Er hat eine unglaubliche Detailtiefe und -besessenheit. Und ich glaube gerade diese Konstellation mit den Berliner Philharmonikern, die so viel können, aber auch so viel wollen, kann ganz, ganz besonders werden."
    Musik: Ende Scriabin