Freitag, 19. April 2024

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Neue Lyrik aus Südkorea. Ein Radiofeature

Wenn man von der Spitze des Berges Chiri / Herabsteigt, erreicht man den Eingang zu jenem Markt, / zu dem die Guräer aus der Provinz Cholla / und die Santschunger aus Kyungsang / hinaufsteigen, um Tauschhandel miteinander zu treiben, / jenen Eingang zum Markt, / wo die Leute von ihren Dörfern erzählen...

Ingo Colbow | 17.01.2003
    Wie schön es doch war! / Mit all diesen Leuten bei uns, / wie schön es doch war, / unsere Dörfer, auf die wir vom Gipfel herunter blicken können... / Wie schön!

    Die Biografie des südkoreanischen Dichters KO Un beginnt eigentlich mit einem Traum: geboren und aufgewachsen in einem Dorf in der Provinz Cholla träumte er davon, aus ihm würde einmal ein Maler werden. Auf seinem täglichen Weg zur Schule im benachbarten Dorf schwelgte die Phantasie des Kindes in den Bildern der Landschaft und der wechselnden Jahreszeiten. Bis es auf diesem Weg eines Tages von einem grellen Licht geblendet wurde. Er ging näher. Und im Zentrum dieses grellen Lichts entdeckte er zu seinen Füßen ein Buch. Es war ein Buch mit den Gedichten des damals in ganz Korea gefeierten aber schwer an Lepra erkrankten Dichters HAN Ha-Un. Und da verstand KO Un: aus ihm soll einmal ein Dichter werden.

    Doch bevor es dazu kommt, fallen am 25. Juni 1950 nordkoreanische Truppen in Südkorea ein. Drei Tage später erobern sie Seoul und können die südkoreanische Armee bis auf das Gebiet um die weit im Süden liegende Hafenstadt Pusan zurück drängen. Die inzwischen in Inchon gelandeten Amerikaner schlagen den Angriff zurück. Die Nordkoreaner müssen sich bis an die Grenzen Chinas zurück ziehen. Im November schlagen sie mit Hilfe hunderttausender chinesischer Freiwilliger zurück. Wieder verlagert sich die Front nach Süden. Und auch das Dorf, in dem der damals 17-jährige KO Un lebt, wird zum Schauplatz tragischer und Auseinandersetzungen und Kämpfe.

    Als der Krieg begann und die nordkoreanischen Truppen in unser Dorf kamen, zerfiel die Dorfgemeinschaft in zwei Lager. Und alle ‚Linken' fielen über alle vermeintlich ‚Nicht-Linken' her. Sie waren davon beseelt, möglichst viele ihrer ‚Finde' zu töten. Ich war noch sehr jung - siebzehn. Mit siebzehn fühlt man sich in der Welt noch aufgehoben wie ein Kind. Und von einem Tag zum anderen gab es um mich herum nur noch Tote. Tagelang lagen die Leichen im Dorf, ohne daß sie bestattet wurden. Der Geruch lag wie eine Wolke über dem Dorf. Und egal wie oft ich mich wusch: ich konnte diesen Geruch nicht von meinem Körper los werden. Er hing an mir wie eine zweite Haut. Und darüber bin ich verrückt geworden.

    KO Un flieht und findet Zuflucht in einem buddhistischen Kloster in den Bergen. Traumatisiert von den Erlebnissen in seinem Dorf, kann er in der streng und klar umrissenen Welt des Klosters genesen. Er wird Mönch, später Prior eines Tempels und später berufen als Sekretär in die nationale Vereinigung der buddhistischen Mönche.

    Doch am 19. April 1960 wird Südkorea ein weiteres Mal von schweren Unruhen erschüttert: Hunderttausende Studenten und Arbeiter gehen im ganzen Land auf die Straße, um gegen das brutale Regime des von den Amerikanern nach dem Waffenstillstand von 1953 ins Amt gehievten Präsidenten Syngman-Rhe zu protestieren. Es geht um elementare Grundrechte wie die Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit. Und um die Unabhängigkeit von den Amerikanern. Auf den Straßen stehen sich die zu allem entschlossene Jugend eines Landes und deren bis an die Zähne bewaffnete Armee gegenüber. Ko Un beschließt, das Kloster zu verlassen. Er will unter den Menschen leben - und ein Dichter werden.

    Ein Tag voller Wind

    Zu sterben an einem Tag voller Wind, / ist die allergrößte Auflehnung. Den ganzen Tag über / Bauschen sich Flaggen im Wind / Und alle Menschen werden zu Flaggen, / die über dem ganzen Land sich bauschen. / Eben an diesem Tag muss ich sterben! Steh auf! / Steh auf! / Gib den Mut nicht auf! / Auch Du, gestürztes Pferd. Steh auf! / Am hellsten leuchtet in dieser Welt / Ein Tag voller Wind

    Als Dichter wird KO Un sehr schnell einem großen Publikum bekannt. Viele seiner Gedichte avancieren zu Hymnen des Widerstandes. Dem Regime Syngman-Rhe's folgt das noch brutaler gegen die Bevölkerung vorgehende Regime PAK Chong-hee's. Als Mitbergründer einer nationalen Schriftsteller-Vereinigung wirft man KO Un immer wieder ins Gefängnis. 1980 wird er zum Tode verurteilt und später begnadigt. Bis 1988 ist das Land gefangen in den Fesseln der Militärdiktatur. Und die Befreiung von derselben - und das ist wichtig für das Verständnis der heutigen Situation und der Rolle der Dichter und Schriftsteller in der Gegenwart - liegt nur um ein Jahr weiter zurück als die Überwindung der deutschen Teilung.

    Als ich KO Un im Frühsommer dieses Jahres treffe, sind auf den Straßen Seouls wieder täglich tausende Schüler, Studenten und Arbeiter unterwegs. Sie demonstrieren für mehr Freiheit, mehr soziale Gerechtigkeit und für mehr Unabhängigkeit von den Amerikanern, die auch neunundvierzig Jahre nach dem Waffenstillstandsabkommen von 1953 die Machtverhältnisse im Land stark beeinflussen und prägen. Als Präsident KIM Dae-Jung im Jahr 2000 als erster südkoreanischer Präsident nach Nordkorea reisen konnte, nahm er den Dichter KO Un - stellvertretend für alle Südkoreaner, die eine friedliche Wiedervereinigung mit dem Norden herbei sehnen - auf diese Reise mit. KO Un ist heute ‚der' große alte Mann der südkoreanischen Literatur und schon seine bloße Teilnahme an dieser Reise verstanden viele als ein Zeichen des Friedens. Ihm selbst geht es heute darum, die Dichter der nachwachsenden Generationen zu ermutigen. Sie sollen kämpfen und sie sollen sich einmischen in die Auseinandersetzungen der Gegenwart - und der kommenden Tage.

    An einen jungen Dichter


    Hast Du Soma getrunken? / Warum bist Du nicht wirklich traurig? Warum nicht echt verzweifelt? / Es wäre Dein erster Schritt. / So war es nicht nur in jenem Jahrzehnt / der Zerstörung, den Fünfzigern. Auch heute / sind junge Dichter der Sonne am nächsten

    Eine Epoche ist die Summe all ihrer Dummheiten. / Doch Unruhe, Qual und Schmerz sind auch süß. / Weißt Du etwa nicht, wie lebendig sie Dein Gedicht machen, / wie sie Dein Leben fliegen lassen - / Ping! Wie ein abgeschossener Pfeil. Weißt Du etwa nicht, dass Du ohne sie / Keine große Zukunft haben wirst?

    Doch denkt man heute an Südkorea, dann meint man eigentlich damit Seoul. Für die Südkoreaner ist Seoul der Symbol gewordene Ort ihrer Leistungsfähigkeit und ihres Reichtums. Es ist der Ort des koreanischen Wirtschaftswunders. Lebten noch vor 30 Jahren mehr als neunzig Prozent der Südkoraner in Dörfern wie jenem, in welchem KO Un geboren wurde, so leben heute neunzig Prozent verteilt auf sieben Großstädte, allein zwölf Millionen davon im Großraum Seoul. Die Stadt ist schnellebig, großspurig und anonym. Hier kann man in kürzester Zeit kometenhaft aufsteigen - und wieder untergehen. ‚Try and Error' lautet die Devise. Für die Südkoreaner ist es selbstverständlich, sich ausländisches know how innerhalb kürzester Zeit anzueignen. Auf den Straßen Seouls fahren alle großen Luxuslimousinen der Welt: Jaguar, Pontiac, Daimler-Benz. Nur daß sich all diese Wagen bei näherer Betrachtung als geschickte Nachahmungen erweisen. Sie heißen "Potentia", "Eleganza", "Credos" oder "Prince" und gebaut werden sie von Samsung oder Hyunday. Und um diese Wirklichkeit Südkoreas zu verstehen, muß man Gedichte wie jene der 1955 geborenen Lyrikerin KIM Hyesoon lesen.

    Alle Filme sagen es: / Die modernen Engel seien die MAFIA / Man müsse Beziehungen zur MAFIA haben / Dann könne man Kontrolle über Läden Die auch nachts hell erleuchtet sind, haben / Das sagen die Filme aus dem Morgen- und Abendland immer wieder / Die modernen Engel seien Menschen mit Anstand / Denn sie ziehen sich bereits vor unserem geplanten Tod / Schwarze Trauerkleidung an und es sind dankbare / Personen, die ihre Pistolen hinhalten und dabei aufrichtig aussprechen: / Bei der Sache darfst du keine Gefühle haben! Und / Meine Engel zum heutigen Gebrauch waren / Fünf Raben / Unter dem Decknamen Blue, White, Brown, Orange und Pink / Na, wollt ihr alles klein schlagen, dann bitte durchlöchert mich / Schnell! (Damit ein Wassertropfen aus dem Meer springt / wogt und tobt das gesamte Meer damit eine Träne aus dem Körper springt / verlassen tausende von Schildkröten mit Eiern im Bauch hastig das / Meer und kriechen den Sandhügel als dunkler Schatten hoch und / Draußen vor dem Autofenster tropft ein einziger Regentropfen)

    Die heute 47-jährige KIM Hyesoon hat 1980 ihre ersten Gedichte veröffentlicht. Und schon mit diesen ersten Gedichten wurde in der öffentlichen wie der literarischen Diskussion Südkoreas ein ganz neues Kapitel aufgeschlagen: KIM Hyesoon ist eine Lyrikerin der Stadt. Es ist die Großstadt, die Millionen-Metropole Seoul, in deren Labyrinth sie ihre Sujets und Themen findet. In ihren Gedichten spiegelt sie die Sehnsüchte und Tragik einer inzwischen auf dem Treibsand der Krisen und Heilsversprechen orientierungslos gewordenen Gesellschaft. Und der Ort, an dem die Menschen in dieser Gesellschaft ihre Sinnfragen stellen, ist nicht mehr die Natur, sondern das moderne Kino.

    Sehen Sie, ich habe sehr viele Filmkritiken geschrieben. Seoul ist heute eine Großstadt, in der beinahe 20 Millionen Menschen zusammen leben. Und den Menschen der Großstadt ist die Natur, also der Ort ihrer Wurzeln und Herkunft, abhanden gekommen. Ich glaube, für deren Fühlen und Denken hat das Kino diesen Platz eingenommen. Das heißt, die Menschen gehen mit den gleichen Erwartungen ins Kino, mit der sie früher in die Natur gingen - mit ihren Sehnsüchten und ihrer ganzen Hoffnung. Jedenfalls fühle ich es so. Und ich selber fühle mich sehr wohl, wenn mir im Kino Ideen und Bilder kommen, die in meinen Gedichten Verwendung finden.

    Doch mit den Gedichten KIM Hyesoons wurde noch eine weitere - für die südkoreanische Gesellschaft wie für die Literatur - ganz neue Qualität erschlossen: es ist die Sprache und Lyrik einer Frau. Und die Frau hatte bis dahin weder in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit noch in der Literatur einen Platz. Erst der gewaltige Schub der Industrialisierung und der damit verbundene Eintritt der südkoreanischen Frauen in die Arbeitswelt markiert deren Eintritt in den Prozeß der gesellschaftspolitischen Wirklichkeit, deren Reflexion und Konflikte. Denn, so erzählt Kim Hyesoon:

    Als Frau wird man auch heute noch vor allen Dingen damit konfrontiert, daß man zuerst und vor allem eine Frau ist. Seitens der Gesellschaft gibt es für die Frauen bis heute noch sehr fest umrissene Forderungen, in welchen Bahnen ihr Leben zu verlaufen hat. Die Gesellschaft bestimmt, daß eine Frau heiratet und es ist die Gesellschaft, die festlegt, ob und in welcher Weise sie berufstätig wird. Für all das gibt es sehr fest umrissene Rahmen, die wir auch heute - trotz aller Umwälzungen in Korea - nicht verlassen dürfen. Und aus dieser Wahrnehmung heraus entwickeln sich meine Gedichte.

    Die Arbeit der Lyrikerin KIM Hyesoons wird von den ersten dichterischen Anfängen her bis heute von dem hartnäckigen Bestreben geprägt, dem Wesen und der Situation der Frau in einer modernen Gesellschaft wie es Südkorea heute ist, einen authentischen Ausdruck zu verleihen - und dies in einer ganz neuen Form und Sprache. Es geht ihr um das spezifisch Weibliche und damit um etwas in besonderer Weise auch in der heutigen Gesellschaft Bedrohtes. Und so sagt die Autorin weiter:

    Wenn ich schreibe, habe ich immer einen sehr wachen Instinkt, ob es die Muttersprache ist, in der ich schreibe - also die Sprache der Mütter. Oder ob ich mich in der Sprache der Männer verliere, die diese entwickelt haben, um den Frauen ihren Platz zuzuweisen. Diese Frage beschäftigt mich sehr. Denn alle Frauen, die heute Gedichte schreiben, spüren, daß sie sich mit der ihnen eigenen Sprache nicht automatisch auch in dem Raum der sie umgebenden Wirklichkeit bewegen und ausdrücken. Weil die Wirklichkeit um sie herum nicht der Raum ‚ihrer' Sprache ist. So ist es für Frauen, die heute Gedichte schreiben, zum Beispiel ganz selbstverständlich, daß ihre Gedichte von Männern generell als unverständlich empfunden werden. Und die Kluft, die Männer und Frauen trennt, ist sehr tief.

    In einem ihrer Gedichte, welches diese genuin weibliche Poetik der KIM Hyesoon bis ins stilistische hinein besonders eindrucksvoll belegen, heißt es:

    In meiner Brust tickt eine Uhr / Sie hat sich ihr ganzes Leben lang noch nicht ausgeruht / Eine Uhr, die Blut isst und Blut ausscheidet / Von ihr breiten sich rote Stämme / Mit ausgestreckten Ästen über den ganzen Körper aus / Wie nackte Zweige des Winterefeus / Die die Zementuhr auf dem Turm umschlingen

    Deine Uhr konnte ich noch nie / Läuten lassen, und keiner Berührt meine Uhr aus blutigem Fleisch / Wird auch diese grausame Uhr nachdenklich sein? / Wer brachte mir wohl bei, / dass ein Jahrhundert kurz, aber ein Tag lang sei?

    Mal starrte ich auf die Sonnenuhr und wurde ohnmächtig / Und mal warf ich meinen Körper mit der Uhr in das Meer / Doch keinen Schreck, keine Liebe konnte / diese Uhr anhalten

    Wir drei aus der Familie, deren Uhren / Zu unterschiedlichen Zeiten begonnen haben zu ticken / Sitzen um den Esstisch und füttern schweigend unsre Uhren / Keiner von uns legte die Uhr ab und / Stellte sie auf den Esstisch. Noch nicht

    Ah, aus Leibeskräften schreie ich in dein Ohr: / Ich liebe dich Damit deine Uhr es hört und läutet / Schreie ich / Sind aber meine Worte, dass ich dich liebe, und / Deine tickenden Worte nachmittags um drei Uhr dass du mich liebst, wirklich? / Wir waren noch nie bis zu unseren Uhren vorgedrungen / Draußen vor der Uhr zieht Wind auf / Da rascheln die roten Zweige des Winterefeus / In meinem Körper und zittern im Wind / In meinen Augen sammeln sich Tränen / Kannst du für einen Augenblick den Zeiger meiner Uhr anhalten? / Kannst du diese Uhr ohne Zeiger in deine Arme schließen? / Lege ich mein Ohr an deine Brust / Hallt das Pochen der blutigen Uhr, die von selbst weiter rennt / Genau nach der Zeit.