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Neue "Mord im Orient-Express"-Verfilmung
Hercule Poirot sucht zum vierten Mal den Mörder in den Abteilen

Kenneth Branagh inszeniert Agatha Christies "Mord im Orient-Express" in neuem Gewand. Regie und Hauptrolle: er selbst. Außerdem ein großes All-Star-Ensemble von Michelle Pfeifer über Johnny Depp bis Judi Dench. Eine gelungen moderne Umsetzung einer von Zeit überholten Geschichte - im Kammerspiel "Zug".

Von Hartwig Tegeler | 07.11.2017
    Kenneth Branagh auf einer Bühne stehend, in die Hände klatschend.
    Kenneth Branagh ist mit der 4. Verfilmung des Orient-Express ein "erstaunliches Kunststück" gelungen (dpa/picture alliance/Michael Reichel)
    Sollten sie im Vorwege denken, ach nee, behäbiger, abgehangener Kram, Agatha Christie eben, und dann sitzen alle Verdächtigen zusammen, während der Detektiv den Mörder entlarvt: Sie haben recht. Zum Teil. Kenneth Branagh - Regisseur und Hauptdarsteller in dieser vierten "Mord im Orient-Express"-Verfilmung - bietet auf den ersten Blick gediegene, von seinem großartigen All-Stars-Ensemble gespielte Unterhaltung, aber dieser "Orient-Express"-Mord,
    "Ein Passagier ist gestorben. Er wurde ermordet."
    er bietet einiges mehr an Substanz.
    "Ich kenne Ihren Schnurrbart. Ich habe ihn in Zeitschriften gesehen. Sie sind der Detektiv."
    Ein bisschen arrogant, ein bisschen sympathisch
    Zunächst natürlich Auftritt des Meisterdetektivs, der sich auf der Rückreise von einem seiner Fälle in den Orient-Express begibt.
    "Herkules Poirot?! - Hercule Poirot. Isch erläge keinäh Löwän."
    Natürlich muss Hercule Poirot - Kenneth Branagh spielt ihn mit einem fulminanten Schnauzer -
    "Es ist wahr: Kein Detail, das ihm entgehen kann."
    zunächst muss er der eigenen Arroganz vor einer Mitreisenden angemessenen Raum geben.
    "Und darf ich Sie fragen, ob Sie Ihre Zeit dort erfreulich fanden als Gouvernante? Die Kreide an ihrem Ärmel. Das Geografie-Lehrbuch. Gouvernante oder Kartographin? Isch 'abe eine Münzäh gewo'fen."
    Dass er dabei schmunzelt, macht ihn ein klein wenig sympathischer. Der bekannt Plot: Auf dem Weg von Istanbul nach Calais bleibt der Orient-Express auf dem Balkan im Schnee stecken. Der zwielichtige Kunsthändler Ratchett wird in seinem Abteil ermordet aufgefunden. Klar ist Hercule Poirot sofort dieses:
    "Der Mörder ist hier in diesem Zug."
    Am Ende sitzt die Schar der Verdächtigen - Agatha-Christie-like - im Speisewagen, und der Meisterdetektiv löst virtuos alle Rätsel. Der Mord wird aufgeklärt.
    Große Bilder stören die Geschichte nicht
    "Mord im Orient-Express" ist opulentes Hollywood-Kino. Erstaunlich aber ist, wie wenig altbacken Kenneth Branaghs "Orient-Express"-Verfilmung im Vergleich beispielsweise zu Sidney Lumets Version von 1974 wirkt. Regisseur Branagh bringt die scheinbar so von der Zeit überholte Geschichte von Agatha Christie quasi wieder auf ihren moralischen Kern zurück. Schon in seiner "Cinderella-"-Verfilmung zeigte sich Kenneth Branagh genauso wie in seinem Regie-Debüt von 1989, in "Henry V.", als großartiger Kinoerzähler. Und auch, wenn Branagh in großen Bildern schwelgt, erschlägt das Visuelle bei ihm nicht die Geschichte wie es im heutigen Bombast-Kino häufig der Fall ist.
    Die englische Schriftstellerin Agatha Christie in ihrem Haus Greenway House in Devonshire an der Schreibmaschine im Januar 1953.
    Der Film geht zurück auf das Werk von Agatha Christie (picture-alliance / dpa / UPI)
    1934 fiktionalisiert Agatha Christie quasi die Entführung und Ermordung des Lindbergh-Babys, die sich zwei Jahre zuvor ereignete. Im Roman wie in Kenneth Branaghs Verfilmung zeigt sich, dass alle im Zug eine Verbindung haben zum Fall eines kleinen Mädchens aus dem Hause reicher Bürger. Ihr aller Leben ist durch diese Tat zerstört worden. Das Mordopfer im Zug - gespielt von Johnny Depp - war offensichtlich der Mörder dieses kleinen Mädchens. Und auch, wenn Hercule Poirot den Fall aufklärt, bleibt er am Ende vielleicht nicht juristisch, aber moralisch ambivalent. Es gibt keine Läuterung, eine Lösung vielleicht, aber keine Erlösung.
    "Ein erstaunliches Kunststück"
    Kenneth Branagh liefert eine eindrucksvolle Reflexion über die Natur des Menschen. Betört durch das große Spiel von Branagh selbst, von Michelle Pfeiffer, Daisy Ridley, Judi Dench, Penélope Cruz oder Derek Jacobi erscheint der "Mord im Orient-Express" erstaunlich modern mit seiner Frage, was es bedeutet, wenn der Mensch tötet und was er damit in sich selbst zerstört. Kenneth Branagh schafft es zu zeigen, was in dem alten Agatha-Christie-Stoff steckt. Damit gelingt ihm ein erstaunliches Kunststück.