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Neue Musik aus Japan
Zwischen West und Ost vermittelnde Klänge

Westliche Instrumente und traditionelle Klänge verbinden die japanischen Komponisten Toru Takemitsu und Toshio Hosokawa in ihren Produktionen. Dabei geht es vor allem um das Übertragen gewisser Grundprinzipien japanischer Ästhetik in ein anderes instrumentales Medium.

Von Ingo Dorfmüller | 12.04.2015
    Der japanische Komponist Toshio Hosokawa im März 2009 anlässlich der Biennale in Salzburg.
    Der japanische Komponist Toshio Hosokawa 2009 bei der Biennale in Salzburg. (Imago / Manfred Siebinger)
    (Musik) Toru Takemitsu: Equinox (1993) – Ausschnitt; Marco Del Greco, Gitarre
    "Der Ton japanischer Instrumente ist im Augenblick des Erklingens wirklich maßlos frei, der Klang ist gegenwärtig, er erscheint als eine Präsenz, die durch die Spieler mit der Natur eins wird, sich offenhält und über das Existierende hinausgeht."
    Diese Beobachtung formulierte der japanische Komponist Toru Takemitsu, und er erforschte auch das westliche Instrumentarium im Hinblick auf diese Möglichkeiten. So hatte er eine besondere Vorliebe für die Gitarre, die hinsichtlich Spieltechnik und Resonanz eine gewisse Verwandtschaft mit japanischen Zupfinstrumenten aufweist, etwa der Wölbbrettzither Koto oder der Laute Shamisen. Indessen erschöpfen sich seine Gitarrenkompositionen nicht in der Imitation japanischer Klänge: Takemitsus Schreibweise ist durchaus instrumentenspezifisch. Es geht ihm vielmehr um das Übertragen gewisser Grundprinzipien japanischer Ästhetik in ein anderes instrumentales Medium. Die Zeit wird in der japanischen Musik nicht quantitativ aufgefasst - es gibt kein objektives Zeitmaß in gleichmäßigen Taktschlägen -, sondern es gilt das qualitative Prinzip des "erfüllten" Augenblicks und des "richtigen"Abstandes - "ma" genannt. Dabei gibt der je individuelle Atem das Maß vor, nicht der regelmäßige Puls.
    Takemitsus Musik ist aber mindestens ebenso sehr geprägt von europäischen Traditionen, die er, der große Autodidakt, mit großer Neugier aufgenommen und seinem persönlichen Ausdrucksbedürfnis anverwandelt hat. Und so durchziehen manche seiner Gitarrenstücke deutlich wahrnehmbare Reminiszenzen: In der 1987 entstandenen Komposition "All in Twilight" etwa kann man Debussy heraushören oder diskrete Jazz-Anklänge.
    (Musik) Toru Takemitsu: All in Twilight (1987) - 1. Satz (Ausschnitt); Marco Del Greco, Gitarre
    Eine zwischen West und Ost vermittelnde Position nimmt auch Toshio Hosokawa ein: 1955 in Hiroshima geboren, gehört er der Generation nach Takemitsu an, den er gelegentlich als seinen Mentor bezeichnet hat. Hosokawaseuropäischer Bezugspunkt ist vor allem die Nachkriegsavantgarde, und so ist seine Musik mitunter von größerer klanglicher Härte.
    (Musik) Toshio Hosokawa: Serenade (2003) - 1.Satz (Ausschnitt); Marco Del Greco, Gitarre
    Die Serenade von Toshio Hosokawa ist das Schlussstück auf dieser CD mit Gitarrenmusik von Toru Takemitsu, gewissermaßen als logische Weiterentwicklung von dessen ästhetischen Positionen. In einem kurzen Booklet-Text erweist Toshio Hosokawa nicht nur dem älteren Komponisten seinen Respekt, er rühmt auch das "tiefe Verständnis" und "die präzise, sensible Technik" des Gitarristen Marco Del Greco. Dem ist kaum etwas hinzuzufügen; allenfalls noch, dass die CD auch technisch sehr gut gelungen ist: Die Musik ist präsent eingefangen, hat aber genug Raum, um zu verklingen und zu atmen.
    Musik von Toshio Hosokawa sind auch die beiden anderen CDs gewidmet, die ich Ihnen heute vorstellen möchte: Hier sind es die Musiker des Arditti-Quartets, die anhand von Quartetten, Quintetten und drei Solostücken Stationen einer kompositorischen Entwicklung auf sehr fesselnde Weise beleuchten. Das früheste der Stücke ist das fünfsätzige Quartett "Urbilder", entstanden 1980, noch während Hosokawas Studium bei Isang Yun an der Hochschule der Künste im damaligen West-Berlin.
    (Musik) Toshio Hosokawa: Urbilder, für Streichquartett (1980; rev. 1984) - 3.Satz (Ausschnitt); Arditti Quartet
    Hosokawas erste Quartettkomposition ist in freier Zwölftönigkeit gehalten, sie verwendet Mikrotöne und wird durch scharfe Akzente aufgeraut. Sein Lehrer Isang Yun jedoch machte ihn nicht nur mit der Ästhetik der westlichen Avantgarde vertraut, er öffnete auch sein Verständnis für die traditionellen Musikstile Ostasiens: Hier war Musik nie als kausal-logische Entwicklung gedacht worden, sondern als Sukzession erfüllter, "voll gelebter und ins volle Bewusstsein gehobener Augenblicke" - so formuliert es der Musikwissenschaftler Kazuo Fukushima. Demgemäß wird auch der einzelne Ton nicht lediglich als Bestandteil eines größeren Ganzen betrachtet: Vielmehr entwickelt er ein Eigenleben. "Vom Ansatz bis zum Verklingen ist jeder Ton Wandlungen unterworfen", so beschrieb es Isang Yun im Jahr 1965, "er wird mit Verzierungen, Vorschlägen, Schwebungen, Glissandi und dynamischen Veränderungen ausgestattet ...".
    Toshio Hosokawa hat mehrfach beschrieben, wie er die traditionelle japanische Kunstmusik erst auf dem "Umweg" über die westliche Avantgarde für sich entdeckt hat: Dann aber wurde sie bestimmend für die Entwicklung seines Musikdenkens. So speist sich seine Klangvorstellung im Wesentlichen aus drei Quellen: Der Klangwelt der westlichen Avantgarde; Klang und Spieltechniken der japanischen Instrumente, die er häufig einsetzt, auch und gerade im Zusammenspiel mit westlichen Instrumenten; schließlich der Klang der Natur. Die "Nachahmung der Natur" ist eines der Grundprinzipien aller japanischen Kunst, und ganz in diesem Sinne formuliert auch Toshio Hosokawa: "Ideale Musik ist für mich wie Naturgeräusch."
    (Musik) Toshio Hosokawa: Fragments II, für Blockflöte und Streichquartett (1989) – Ausschnitt; Tosiya Suzuki; Arditti Quartet
    In Toshio Hosokawas Musik koexistieren zwei Zeitvorstellungen, die eigentlich unvereinbar sind: Die Vorstellung einer "kreisenden Zeit", wie er selbst das nennt, und ein dynamischer Formverlauf nach westlichem Muster. Sie überlagern einander - in der Weise, dass die Sukzession der "erfüllten Augenblicke" dennoch eine Art von Steigerungskurve ergibt. Selbst in einem so vordergründig statischen Stück wie "Landscape V" für Sho und Streichquartett lässt sich das beobachten. Zunächst aber ist das Stück von der besonderen Spieltechnik der Sho, der japanischen Mundorgel bestimmt: Die 17 Bambuspfeifen können sowohl beim Ausatmen wie beim Einatmen zum Klingen gebracht werden, das Instrument kann also einen permanenten, nur vom Atemwechsel und dem damit verbundenen An-und Abschwellen des Tones rhythmisierten Klangstrom produzieren.
    (Musik) Toshio Hosokawa: Landscape V, für Sho und Streichquartett (1993) - Ausschnitt; Mayumi Miyata, Sho / Arditti Quartet
    Dieses paradoxe Ineins, dieser wundersam in der Schwebe gehaltene Widerspruch von Statik und Dynamik, wird in dem präzisen und sehr informativen Booklet-Text von Dirk Wieschollek in Beziehung gesetzt zum Denken der "Kyoto-Schule" um den Philosophen Nishida Kitaro. Er versuchte in den 1920er Jahren, zen-buddhistisches Denken mit der Philosophie des Abendlandes zu verbinden. In dem 2012 erschienenen Gesprächsband "Stille und Klang, Schatten und Licht" bestätigte Hosokawa, dass er hier einen Anknüpfungspunkt gefunden habe:
    "Was mich an der Kyoto-Schule fasziniert, ist die Art, wie ihre Vertreter mit dem Widerspruch zwischen dem Denken - dafür steht die Auseinandersetzung mit europäischen Traditionen - und Nicht-Denken - das ist der Zen - umgehen. Wie sie versuchen, eine Balance zu schaffen. Ich fühle diesen Widerspruch sehr stark. Wenn ich arbeite, muss ich diesen Strom und diese Kraft fühlen."
    Und so ist es möglich, dass Hosokawa der horizontalen Dehnung der Zeit, wie er sie in "Landscape V" praktiziert hat, in seiner jüngsten Quartettkomposition, "Kalligraphie", einen in fast jeder Beziehung kontrastierenden Entwurf entgegensetzt. Hier spielen kurze, scharfe, gleichsam "vertikale" Akzente eine wichtige Rolle, die an die perkussiven Härten seiner Frühwerke denken lassen. Das Grundprinzip der Kalligraphie - dass der umgebende leere Raum für die Wirkung mindestens ebenso wichtig ist, wie die Schrift selbst - ist in Hosokawas gesamtem Musikschaffen gegenwärtig: Er definiert Musik als "eine Kalligraphie der Klänge, die auf der Leinwand des Schweigens gemalt wird." Noch etwas radikaler die Formulierung, Komponieren sei eine Handlung, die man ausführt, "um die Intensität des Schweigens zu vertiefen, nicht die Intensität der Klänge".
    In den sechs kurzen Stücken seiner "Kalligraphie" geht Hosokawa einen Schritt weiter. Hier geht es auch um die körperliche Aktion, wobei die Bewegungen der Spieler der Pinselführung des Kalligraphen entsprechen und wiederholt "einfrieren": Die Partitur schreibt vor, dass die Musiker an diesen Stellen "bewegungslos" in ihrer Position verharren - entsprechend vielleicht dem Absetzen des Pinsels nach dem spontan und ohne Pause zu absolvierenden Schreibvorgang.
    (Musik) Toshio Hosokawa: Kalligraphie, sechs Stücke für Streichquartett (2007; rev. 2009) - 4.Satz; Arditti Quartet
    Die beiden CDs mit Musik von Toshio Hosokawa warten mit der denkbar kompetentesten Besetzung auf: Das Arditti-Quartet hat in den 90er-Jahren - damals noch in etwas anderer Besetzung - die Streichquartette "Landscape I" und "Silent Flowers" zur Uraufführug gebracht, und seitdem nicht aufgehört, an und mit Hosokawa zu arbeiten. Die Sho-Spielerin Mayumi Miyata ist diejenige, die nicht nur Hosokawa, sondern auch vielen westlichen Komponisten das Verständnis für die Einsetzbarkeit dieses ehrwürdigen Traditionsinstrumentes in zeitgenössischen Zusammenhängen geöffnet hat. Nicht minder kompetent und in der Materie erfahren auch der Blockflötist Tosiya Suzuki und die Harfenistin Naoko Yoshino. Die Leichtigkeit und beinahe absichtslos wirkende Eleganz, mit der sie alle den schwierigen Parcours absolvieren, ist eindrucksvoll - und dem Gegenstand gewiss angemessen. Auch hier ist das Klangbild hervorragend: Klar, scharf zeichnend, transparent.
    Toshio Hosokawa: Landscape II, für Harfe und Streichquartett (1992) – Ausschnitt; Naoko Yoshino, Harfe / Arditti Quartet
    Hier noch einmal alle Angaben zu den besprochenen CDs: Marco Del Greco spielt Gitarrenmusik von Toru Takemitsu und Toshio Hosokawa, die CD ist auf dem Label NEOS erschienen. Die beiden CDs mit dem Arditti Quartet sind ausschließlich Hosokawa gewidmet und bei Wergo veröffentlicht worden: Die Quartettkompositionen unter dem Titel "Silent flowers"; die zweite CD trägt den Titel "Quintets & Solos".
    Die neue Platte: Neue Musik aus Japan von Toru Takemitsu und Toshio Hosokawa:
    Toru Takemitsu - Toshio Hosokawa: Works for Solo Guitar; Marco Del Greco, Gitarre; NEOS 11317
    Toshio Hosokawa: Silent Flowers - String Quartets; Arditti Quartet; Wergo WER 6761 2
    Toshio Hosokawa: Quintets & Solos; Arditti Quartet - Mayumi Miyata - Naoko Yoshino - Tosiya Suzuki; Wergo WER 6769 2