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Neue Musik europäischen Stils

Europa wächst zusammen: Europäische Künstler auch aus Nord, Ost und Süd drängen auf den gemeinsamen Markt. Dies gilt nicht minder für die CD-Produktion, die derzeit viele neue Namen beschert. Zu ihnen zählen die begabten Komponisten Dan Dediu, Minas Borboudakis und Josep-Maria Balanyá.

Von Frank Kämpfer | 02.09.2007
    In den nächsten zwanzig Minuten geht es um Neue Musik – und ich stelle Ihnen drei neue CD-Alben vor, auf denen sich Komponisten und Pianisten vorstellen, die aus Rumänien, Griechenland und Spanien stammen.

    Musikbeispiel: Dan Dediu, Tempo di Menuetto, aus: Notturnissime

    Galant eingangs der Triller, ein Stilzitat; der harmonische Rahmen hängt schief, sprengt auf. Dann Anflüge einer Kadenz, grell überlagert. Das Tempo zieht an. Ein, zwei Läufe, die den Tonraum vermessen – sekundenschnell und hochvirtuos. Einen Atemzug lang eine Mozartsche Floskel – zu knapp, um sie genau zu bestimmen. Ein Zug rast vorbei, entschwindet ins Nichts – ward nie gesehen.

    Tattoos nennt Komponist Dan Dediu seine sieben "Notturnissime", Etiketten von kurzer Dauer, die verschiedene Epochen von Musikgeschichte repräsentieren – in heutiger Wahrnehmung sind sie neu aufgemischt. Das eben gehörte dritte, "Tempo di Menuetto", jagt durchs 18. Jahrhundert, fischt dort zwei, drei Stereotype, collagiert diese rasch.

    Die Miniatur sagt einiges über das Komponieren und Musikdenken seines Urhebers. Dan Dediu, Jahrgang 1967, Schüler von Nicolescu und Constantinescu und heute in Bukarest Lehrstuhlinhaber für Formanalyse und Komposition, ist unverkennbar ein Erbe der großen rumänischen Komponisten-Generation der 70er, 80er Jahre. Er hat von ihnen das Handwerk, aber auch Spielwitz und manche Eigensinnigkeiten ererbt.

    Zum Beispiel den Hang zur Gleichzeitigkeit verschiedener Epochen und Stile. Musikgeschichte ist für Dediu ein unendlicher Fundus: er greift gern mitten hinein, verwendet dann unorthodox, also heutig – er reiht, schneidet, montiert, mischt und collagiert vermeintlich naiv und spontan – in Wahrheit höchst geistvoll und mit einer ziemlichen Prise Humor. Wer im Westen und in vergleichbaren Ämtern würde so frisch und intelligent komponieren? Zudem ist Dediu ein exzellenter Konzertpianist, der seine oft Klavier-zentrierte Musik live höchst eindrücklich interpretiert.

    Das vermittelt auch vorliegende Porträt-CD, die im Frühjahr bei Cavalli Records erschien. Das Label sitzt in Bamberg, wo Dediu im vergangenen Jahr Gast der Villa Concordia war. Die Aufnahmen mit Dan Dediu und Valentina Sandu (Klavier) und dem hochbegabten Flötisten Ion Bogdan Stefanescu indes sind im Saal des Rumänischen Komponistenverbandes entstanden – sie versammeln neben den eben angespielten "Notturnissime" die Flötenminiaturen "Naufragi 1-6" und die reichlich bizarre "Fantasia fantomagica" – allesamt neuere Kompositionen.

    Hier noch ein Höreindruck: Apfelwürmer, das Titelstück der CD; eine – wie der Komponist sagt – balkanische Albora del gracioso, die hektisch, zirzensisch, graziös wie abstrus wirken mag.

    Musikbeispiel: Dan Dediu, Apfelwürmer

    Kompositionen Klavier und Flöte von Dan Dediu – neu bei Cavalli Records.

    Auch Minas Borboudakis, ein Generationsgefährte, hat einen kompositorischen Mittelpunkt am Klavier. Borboudakis, geboren 1974 auf Kreta, lebt in München. Der Schüler von Wilfried Hiller und Peter Michael Hamel sieht sich selbst in der romantischen Klaviertradition verhaftet. Nicht klanglich freilich – vielmehr in der Dreiheit von Selbstsuche, kompositorischer Innovation und spieltechnischer Realisierbarkeit.

    Der junge Grieche ist ein Konstrukteur, ganz gleich, ob er sich auf technische Phänomene bezieht oder auf antike Sujets. Kompositionen wie "Zykloiden", "Katharsis" oder "Palindromia" – alle in den letzten fünf Jahren entstanden – stehen dafür. Strenge, eigens erfundene Formverläufe korrespondieren mit einer Klangsprache von kontrollierter Emotion. Ganz gleich, ob die Stücke meditativ oder maschinenhaft klingen – enormes pianistisches Können ist hier gefragt.

    Den besonderen Reiz der bei Wulf Weinmanns neuem Label Neos im Frühjahr erschienenen Porträt-CD machen sechs kleine elektroakustische Arbeiten aus, beziehungsweise die Kombination selbiger mit konventionellem Instrumentengebrauch.

    Yvonne Petitpierres Komponistengespräch im CD-Booklet erhellt ganz unprätenziös deren Sinn. Besagte "Metal Mechanics" basieren auf Klavierklängen, die der Komponist mit geeigneter Software effektvoll verfremdet und bearbeitet hat – als Kommentare und Bindeglieder zwischen einst unabhängig entstandenen Werken.

    Das folgende Hineinhören in diese dramaturgisch klug durcharrangierte CD zielt auf solcherlei Übergänge. Es läuft die letzte Minute des Klavierstücks "Katharsis", dann folgt "Metal Mechanics Part V", und schließlich der Anfang einer älteren Komposition mit dem Titel "1945. Nachklänge der Vergangenheit".

    Musikbeispiel: Minas Borboudakis, aus: Katharsis / Metal Mechanics V / aus: 1945. Nachklänge

    Neu bei Neos: Klaviermusik von Minas Borboudakis – eingespielt vom Komponisten bei Feldtmann Kulturell in Hamburg und im Künstlerhaus München.

    Er betrachte den Flügel gleichzeitig als großartiges Musikinstrument und auch als Spielzeug. Denn wenn er daran musiziere, fühle er sich frei wie ein Kind: hochkonzentriert, spielerisch, und ganz unreglementiert – erklärt Josep-Maria Balanyà aus Barcelona. Der spanische Pianist spielt improvisierte Musik – heute gilt dies als eigenes Avantgarde-Genre zwischen freiem Jazz und streng notierter Komposition.

    Im vorliegenden Fall klingt das Resultat sehr lebendig – die Haltung des Musizierens ist intensiv, hochemotional. Balanyà nutzt nicht nur Pedale und Tasten, er spielt auf dem hölzernen Korpus und zwischen den Saiten – mit Hilfe von Gläsern, kleinen Rohren, Holzstäben, Bällchen und Ketten experimentiert er mit Klängen, manchmal bedient er sich auch elektroakustischer Hilfen dabei.

    An seiner neuesten Platte "Un peu à gauche, svp" hat Josep-Maria Balanyà vier Jahre gearbeitet. Sie enthält einen dreizehnteiligen Zyklus. Das musikalische Ausgangsmaterial entwickelte der Pianist im Jahre 2003, als die Stimmung in Barcelona von massiven Demonstrationen gegen den Irak-Krieg geprägt war.

    "Un peu à gauche, svp" (dt.: Ein Stück nach links, bitte sehr!) ist also politisch gemeint, als Einspruch gegen geistige Manipulation und Kriegstreiberei. Manche Stücke der Platte wirken dramatisch-ausladend, andere eher minimalistisch oder gar meditativ – es sind Rituale, die der Stille nachgehen. Für mich in diesem Zusammenhang am interessantesten sind die zwei Miniaturen, die den konventionellen Spiel-Rahmen verlassen: das Trommelstück "Te quitan las entranas" zum Beispiel, das auch mit Hallwirkungen spielt. Oder "Te arrancan la piel" – eine Art klang-rhythmischer Studie, erzeugt im Innenraum des Instruments.

    Musikbeispiel: Balanyá, Te arrancan la piel

    "Un peu a gauche, svp" – ein neues Album von und mit dem spanischen Pianisten Josep-Maria Balanyà. Die Aufnahmen entstanden im Frühjahr dieses Jahres im Sendesaal von Radio Bremen, erschienen sind sie vor einigen Wochen bei Laika-Records. Zuvor habe ich Ihnen bei Neos veröffentlichte Klavierwerke von Minas Borboudakis angespielt sowie Dan Dedius’ Porträt-CD "Apfelwürmer", die Cavalli Records herausgebracht hat.

    Dan Dediu: Tempo di Menuetto, aus: Notturnissime, Apfelwürmer
    CD Cavalli Records CCD 288, LC 05724

    Minas Borboudakis, Katharsis, Metal Mechanics V, 1945. Nachklänge
    CD NEOS 10701, LC 15673

    Josep-Maria Balanyá, Te arrancan la piel
    CD Laika 3510231.2, LC 07577