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Neue Musik in unterschiedlichen Energieleveln

Drei Porträt-CDS stellen wir heute vor. Das junge Schweizer Ensemble VORTEX versammelt in seinem Umfeld Musiker und Komponisten unterschiedlichster Herkunft. Intensität ist nicht zwingend an laute Töne gebunden, das belegt die in Graz ansässige Komponistin Joanna Wozny. Zu Beginn aber steht Samir Odeh-Tamimi, der bereits für viele wichtige deutsche Podien Neuer Musik komponiert hat.

Von Frank Kämpfer | 30.10.2011
    Was ist neue Musik? Eine problematische Gegenwartskunst, an deren angemessener Vermittlung es fehlt? Ein Produkt materialästhetischer Innovation, deren Klangwelt in voller Absicht verstört? Ein Politikum? Ein Erkundungsgang in ungesichertes Neuland, eine innere Notwendigkeit, die Denken und Dasein ihrer Macher entspringt?

    Am Mikrofon Frank Kämpfer. Im Folgenden hören wir hinein in drei erste Porträt-CDs von Joanna Wozny, dem Ensemble Vortex und Samir Odeh-Tamimi.
    Musik 01
    Samir Odeh-Tamimi, Philaki
    Ensemble musikFabrik
    CD WERGO WER 6582-2, LC 00846
    Take 05
    0:00 – 2:05


    Einzeln, kräftig, tief, tief greifend – so eingangs das Pizzikato der Harfe. Vier Streicher treten hinzu, in mikrotonaler Textur, aus dem Kontrast von Piccoloflöte und Bassklarinette erwächst Nervosität, beklemmende Intensität. Der Energielevel schwankt, Momenten des Innehaltens folgt neue Aktion. Laut, aufstörend, anrennend gegen etwas, das schicksalhaft scheint.

    Philaki (griechisch: Gefängnis) nennt Samir Odeh-Tamimi sein Ensemblestück mit der phasenweise solistischen Harfe – und er verweist darauf, dass deren Saiten Gitter symbolisierten. Geboren 1970 in Jaljuliya, in einer palästinensischen Siedlung in Israel, ist der Komponist mit sozialen Extremen, mit Unterdrückung und konkreter Bedrohung bestens vertraut. Beim Kompositionsstudium in Bremen indes ermutigte ihn Younghi Pagh-Paan, auch anderen Stimmen zu folgen – traditionellen, familiären, und sich als Künstler einzulassen auf eine doppelte Existenz: als Palästinenser mit israelischem Pass, als Fremder im politisch frisch zusammengeschweißten Berlin, als erfolgreicher junger Araber mit Wohnort Berlin-Kreuzberg auf dem eitlen, elitären Markt der neuen Musik.


    Mit Laufe von nunmehr fünf Jahren hat Odeh-Tamimi für viele wichtige deutsche Podien Neuer Musik komponiert – die eben erschienene Porträt-CD in der Edition Zeitgenössische Musik des Deutschen Musikrats ist dafür das klingende Dokument. Insgesamt sieben aus WDR-, SWR- und DKultur-Produktion resultierende Titel skizzieren auf der Platte Klangwelt, Denken und Fühlen des jungen Urhebers: Da ist massiver Orchesterklang, gibt es Augenblicke der Stille, da klingen Instrumente wie Stimmen, da folgt jiddische Lyrik auf altarabische Prosa. Gegensätze werden aufs Äußerste ausgereizt, und im Ergebnis beginnen sich – wie Booklet-Autor Stefan Fricke formuliert – arabische und europäische Musiktradition zu einer wirklich neuen, das heißt nie vorher gehörten Musik zu verschmelzen.

    Ihn als Künstler politisch zu nennen, würde Samir Odeh-Tamimis Komponieren im heutigen Sprachgebrauch nicht gerecht; würde nurmehr reduzieren. Selbstredend erhebt seine Musik Einspruch gegen Ohnmacht, Zerstörung, Gewalt, gleich wer sie ausübt beziehungsweise erträgt. Zur musikalisch wahrgenommenen, künstlerisch umgesetzten Welt des Komponisten gehören aber ebenso Liebe und Sehnsucht, die Familie, die verlassene Heimat und die in der Kindheit gehörten Korangesänge.

    Ein Beispiel: Madjnun in der Fassung für Männerchor, Geräuschinstrumente und einen Bläser musikalisiert die arabische Legende zweier Liebender, die sich nicht finden, woraufhin die Titelgestalt, Madjnun, zum Poeten, zum Eremiten, zum Mystiker wird – hier verkörpert vom Blockflötenpart.

    Musik 02
    Samir Odeh-Tamimi, Madjnun
    Ensemble musikFabrik
    CD WERGO WER 6582-2, LC 00846
    Take 01
    < 12:41 –> 15:44 >


    Madjnun II – in einer Aufnahme mit Jeremias Schwarzer und Herren vom WDR Rundfunkchor. Samir Odeh-Tamimis Porträt-CD im Rahmen der Edition Zeitgenössische Musik des Deutschen Musikrats ist Anfang des Monats beim Label WERGO erschienen.

    Intensität ist nicht zwingend an laute Töne gebunden – das belegt die nächste CD. Sie porträtiert die in Graz ansässige Komponistin Joanna Wozny. Auch Wozny, 1973 geboren in Zabrze, hat bei Younghi Pagh-Paan in Bremen studiert, für ein Jahr – die prägende Lehrerfigur indes war für sie Beat Furrer, mit dem die Komponistin unter anderem die Vorliebe für Stille verbindet, für filigrane Fakturen, Nuancen, Klänge nah am Geräusch.

    Musik 03
    Joanna Wozny, As in a Mirror, darkly
    Ensemble Courage
    CD KAIROS 00131902KAI, LC 10488
    Take 01
    0:00 – 0:52

    Auf der Porträt-CD, die fünf unterschiedliche Stücke enthält, kommt aber auch jene Joanna Wozny zu Wort, zu deren Sprache die Eruptionen gehören, unvermittelte Ausbrüche, heftiges Gestikulieren. Solche Ausbrüche sollen die Wahrnehmung schärfen für das, was sich im nächsten Moment leise, verhalten artikuliert. Booklettext-Autor Daniel Ender arbeitet eindrücklich heraus, dass die Komponistin sich für Aspekte des Transformierens, der permanenten Verwandlung interessiert. Ein Schlüsselstück dafür ist das Saxophon-Konzert namens "Return", ein Auftrag des Deutschlandfunk übrigens aus dem Jahre 2006, geschrieben für den Warschauer Herbst. Wiederholung als musikalisches Mittel wird hier vielgestaltig durchdekliniert. In der Orchestermusik Loses klingt, was stets im Übergang war, beziehungslos, zusammenhanglos. Die Ensemblemusik "As in a Mirror, darkly" entzieht sich klanglicher Eindeutigkeit, kleinste Verschiebungen wirken wie Verunreinigungen, akustische Kratzer. Das gewählte Klangbeispiel stammt aus einer der zwei Kammermusiken auf der CD – "Kahles Astwerk" betitelt, für Stimme, Flöte, Violine und Violoncello. Fast alles in diesem Quartett wirkt reduziert. Instrumentengleich flüstert die Stimme, seufzerhaft hauchen die Instrumente darin:

    Joanna Wozny, Kahles Astwerk
    Ensemble Courage
    CD KAIROS 00131902KAI, LC 10488
    Take 03
    0:25 – 2:37
    2:12


    Soweit "Kahles Astwerk" – gespielt vom Ensemble Courage. Die Porträt-CD mit Kammer-, Ensemble- und Orchestermusik von Joanna Wozny enthält Mitschnitte u.a. vom Ultraschall Festival, vom Musikprotokoll und vom Warschauer Herbst. Den Namen dieser Komponistin muss man sich merken.

    Die dritte CD, die ich Ihnen heute anspielen will, porträtiert ein Ensemble, das etwa fünf Jahre besteht. VORTEX (deutsch: Wirbel) ist in Genf ansässig und versammelt in seinem Umfeld Musiker und Komponisten unterschiedlichster Herkunft: Viele der auch auf der Platte Versammelten sind Mitte 30 – sie kommen aus Argentinien, Bulgarien, Chile, El Salvador, Holland, Kolumbien, Frankreich, aus Ruanda und aus der Schweiz. Der Kern ist ein Quintett: Gitarre, Schlagzeug, Violine, Kontrabass und Oboe. Die Studienabschlüsse der Musiker sprechen für sich, fast alle lehren bereits. Ihr Verständnis von Neuer Musik – so jedenfalls suggeriert es ihr beim Münchner Label NEOS erschienenes Album – ist ein gänzlich gegenwärtig. Klassiker und Autoritäten suchten man im Repertoire vergebens, jedes Konzert mischt instrumentale Musik mit elektroakustisch Produziertem – sie spielen Komponisten ihrer Generation, die ihrerseits wiederum Ethnologen, Videoproduzenten, Schlagzeuger oder Pädagogen sind. Kein Schmalspurbetrieb also.

    VORTEX ist vielmehr ein Pool, ein Kollektiv, ein kreatives, vitales Gefüge. Traditionsdruck ist nicht ihr Problem. Die meisten der vor Jahresfrist im Schweizer Radio in Genf aufgenommenen Titel wirken vom Gestus her frech, formal unbekümmert. Nicht jedes Stück überzeugt, wenn man grundsätzlich Beethoven, Bach oder Lachenmann für die geeignete Messlatte hält. Hier artikuliert sich ganz anderes. Auf handwerklich hohem Niveau wird auf deutliche, schrille, junge Art versucht, Autoritäten und Werte von gestern zu ignorieren – ohne zugleich jene Leere zu erzeugen, die man derzeit im Alltag und auf den politischen Bühnen erlebt. Von Kontrasten indes ist die Rede, von Kontroversen, die nicht mehr vermittelbar sind, von unerträglicher Monochromie, von Überreiztheit, hektisch-filigraner Nervosität. Musik der Gegenwart also – die von den Ausführenden Höchstes verlangt, den Hörenden schönen Schein aller Art strikt versagt.

    Ein Klangeindruck: Wir blenden uns ein in den Schluss von Arturo Corales' Canon fractal, der mittels Blockflöte, Violine und Elektronik eine keltische Volksmelodie, die Hoketus-Technik und ein Surrogat exotischer Vögel ineinander vermischt. Unvermittelt folgt John Menouds Computermusik Acéphale. Acéphale sind Fabelwesen aus der Antike, kopflose Menschen; Gestalten, die allein mit dem Bauch denken müssen. In Menouds einminütiger Miniatur scheint der Hörende selbst acéphale, ausgesetzt einem herabstürzenden Lärm- und Mediengewitter: AUF ZEIT

    Arturo Corrales, Canon fractal ... / John menoud, Acéphale
    Ensemble Vortex
    CD NEOS 11113, LC 15673
    Take 01 / <<< AUF ZEIT ca. 6:10 – 8:34 und
    Take 02 komplett 1:01
    ca. 3:25


    Das junge Schweizer Ensemble VORTEX hat eine Porträt-CD vorgelegt, sie ist beim Label NEOS erschienen. Zuvor habe ich Ihnen die bei KAIROS in Wien editierte erste CD mit Werken von Joanna Wozny angespielt, sowie Samir Odeh-Tamimis Porträt in der Reihe Edition zeitgenössische Musik des deutschen Musikrats. Soweit für heute unsere Sendung DIE NEUE PLATTE – ausgewählt von Frank Kämpfer.