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Neue Musik
Klangliche Sphären von Avantgarde- und Volksmusik vermischt

Alpenländische Volksmusik, historische Findlinge und elektronische Zithern – all das vereint ein junger Komponist auf seiner Porträt-CD: Leopold Hurt. In der Reihe "Edition Zeitgenössische Musik" des Deutschen Musikrats ist jetzt eine aktuelle Werkschau des 35-jährigen Komponisten erschienen.

Von Leonie Reineke | 03.10.2014
    Ein um die 100 Jahre altes Volkslied aus dem alpenländischen Raum. Was haben diese nostalgischen Klänge aber mit einem Komponisten der Gegenwart zu tun? – In der Neuen Musik ist es inzwischen üblich geworden, andere Genres in das eigene Komponieren einfließen zu lassen, wie zum Beispiel Popmusik. Mit Volksmusik allerdings setzt sich kaum ein zeitgenössischer Komponist auseinander. Das mag daran liegen, dass der Volksmusik zu viele Klischees des Einfachen und Provinziellen anhaften. Leopold Hurt aber schreckt nicht zurück vor diesem vermeintlich tabuisierten Feld. Im Gegenteil: Für seine Komposition Erratischer Block von 2006 hat er sich ausgiebig mit Volksmusik der 10er- und 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts beschäftigt. Alte Schellack-Aufnahmen aus Bayern und Niederösterreich lieferten ihm das Klangmaterial. Diese musikalischen Fundstücke kombiniert Hurt in Erratischer Block mit dem Vokabular zeitgenössischer Ensemblemusik.
    Die Schellack-Aufnahmen tauchen als einzelne, zugespielte Ausschnitte in der Musik auf. So entsteht ein klingendes Spannungsfeld zwischen Avantgarde und Folklore. Stellenweise übernimmt das Ensemble Melodiefragmente oder imitiert Rhythmen der Schellack-Aufnahmen. Gleichzeitig wird aber auch die Volksmusik in typisch Neue-Musik'scher Manier verfremdet, zerschnitten oder gefiltert. Was nicht geschieht, ist, dass die kontrastierenden Bereiche verschmelzen, etwa zu einem Crossover-Stil. Jedes Element bleibt in seiner Eigenart bestehen. Der Titel Erratischer Block ist dabei Programm: Was in der Geologie einen Findling meint, einen einzeln in der Landschaft liegenden Stein, ist bei Hurt ein Sinnbild für die Konfrontation der beiden Genres: Sobald sich ein Musikstil in der Welt des anderen aufhält, entsteht ein absurdes Gesamtbild. Das wird sogar noch verstärkt, indem Hurt seine relativ konventionelle Neue-Musik-Besetzung durch Almglocken und vor allem durch eine Zither ergänzt; ein Instrument, das man sofort mit ländlicher Tanzmusik in Verbindung bringt.
    Zithermusik hat eine eigene Aura
    Leopold Hurt ist selbst Zitherspieler. Mit volkstümlicher Musik allerdings hat er sich lange Zeit gar nicht beschäftigt. Stattdessen hatte er sich schon früh der Alten und zeitgenössischen Kunstmusik gewidmet. Erst im Laufe seines Studiums erkannte er, dass die gedankliche Verknüpfung von Zither und Folklore unumgänglich ist. Der Komponist Helmut Lachenmann beschrieb dieses Phänomen schon in den 70er-Jahren als die Aura eines Instruments. Gemeint sind damit Konnotationen, die automatisch mit einem Instrument verbunden werden, etwa durch seine Rolle in der Kultur, in der Geschichte oder auch durch eine lokale Verortung. So begann Hurt, sich intensiv mit der Geschichte seines Instruments auseinanderzusetzen. Um die Zither dennoch ein Stück aus ihrem Korsett von archetypischen Vorstellungen herauszuheben, sieht er in Erratischer Block eine mikrotonale Stimmung für das Instrument vor.
    Dem Komponisten ist es gelungen, die Aura der alpenländischen Klangwelt künstlich zu intensivieren: Er versieht die Volksmusik-Zuspielungen mit Hall, sodass sie wie aus weiter Ferne in einer einsamen Berglandschaft erklingen.
    Die klanglichen Sphären von Avantgarde- und Volksmusik zu mischen, ist Leopold Hurts kompositorische Visitenkarte. Erratischer Block – auf der CD auch das erste Stück – ist dafür ein greifbares Beispiel.
    Die Porträt-CD-Reihe "Edition Zeitgenössische Musik" wird seit 1986 herausgegeben und dokumentiert das Schaffen junger deutscher oder in Deutschland lebender Komponisten. Für Leopold Hurt ist es die erste CD-Produktion gewesen, bei der nur seine eigenen Kompositionen im Mittelpunkt stehen. Häufiger ist er bisher als Interpret an der Zither auf CDs vertreten. Bei seiner Porträt-CD konnte er beides sein: Komponist und Zitherspieler – wie auch in dem 2012 fertiggestellten Stück Seuring | Schalter für E-Zither, Elektronik und großes Orchester.
    Auch beim Komponieren von Seuring | Schalter diente eine volksmusikalische Quelle als Ausgangspunkt: Ländlermelodien aus dem 19. Jahrhundert nämlich, die Hurt in einem Spielbuch des oberbayrischen Musikanten Friedrich Seuring fand. Beim Hören von Seuring | Schalter sind die Originale allerdings kaum mehr identifizierbar. Sie fungieren lediglich als Lieferant von Material, das durch den Filter des modernen Orchesterapparats und das Zeichensystem der Neuen Musik extrem abstrahiert wird. Gelegentlich aber schimmern dann doch mal kurze Anklänge an die Länderlermelodien durch.
    Die Klänge der elektronischen Zither, die teils mit einem Verzerrer bearbeitet werden, ähneln denen einer E-Gitarre in der Rockmusik. Angenehm ist, dass Hurt die Elektronik zwar exponiert, sie dabei aber sparsam dosiert. Redundante Spielereien und Fingerübungen am Sampler oder Synthesizer muss man also nicht befürchten.
    Komplett ohne Elektronik kommt das Streichtrio August Frommers Dinge von 2008 aus. Das historische Material, auf dem die Komposition basiert, ist hier ein Dokumentarfilm über den exzentrischen bayrischen Wissenschaftler August Frommer. Schon in seiner Jugend in den 30er-Jahren hatte August Frommer sich einer utopischen Aufgabe hingegeben: der Konstruktion einer Maschine, die sich selbst dauerhaft in Bewegung hält. Dafür sammelte der Wissenschaftler zeit seines Lebens Gegenstände und sortierte sie aufs Sorgfältigste. Von diesem Prinzip fasziniert, schuf Leopold Hurt ein kompositorisches Pendant zu August Frommers Arbeitsweise: Das Resultat ist ein Streichtrio, bei dem zunächst einzelne Akkorde oder Rhythmen sporadisch und zusammenhangslos im Raum stehen. Erst nach und nach kommen sie zu einer sinnvollen Verwendung und werden Teil eines organischen Ganzen.
    Erste komplette CD
    Im Laufe des Stückes finden die drei Instrumentalstimmen allmählich zusammen. Sie reagieren aufeinander und entwickeln sich miteinander. Das klingende Ergebnis ist in diesem Fall ein vergleichsweise herkömmliches Avantgardemusik-Stück. Mit seinem eher einfarbigen Klangbild büßt August Frommers Dinge gegenüber den anderen Stücken ein wenig an Präsenz auf der CD ein. Trotzdem wird klar, dass Leopold Hurt das Arbeiten mit Saiteninstrumenten auf den Leib geschrieben ist. Die Stücke auf der CD leben von solidem Handwerk und originellen Ideen, die weit über das Bedienen eines modischen Neue-Musik-Katalogs hinausgehen.
    August Frommers Dinge – ein Stück von der Porträt-CD des Komponisten Leopold Hurt. Erschienen ist die CD beim Label WERGO in der Reihe "Edition Zeitgenössische Musik.