Mittwoch, 17. April 2024

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Neue Musik
Ungeahnte Klangwelten über alten Geschichten

Zwei Ensembles aus den unterschiedlichsten musikalischen Welten, wie beispielsweise dem Free Jazz und der Zwölftonmusik, haben ihre Stile vermischt. Als Basis ihrer teils durchkomponierten, teils improvisierten Stücke dienen den Musikern Texte der Renaissance. Mit der Bandbreite der verwendeten Instrumente zwischen Tuba, Orgel und Elektronik entstehen neue Klangerlebnisse.

Von Ingo Dorfmüller | 01.06.2014
    Verschiedene Blech- und Holzblasinstrumente auf der Messe My Music in Friedrichshafen am Bodensee zu sehen. Foto: Patrick Seeger dpa/lsw +++(c) dpa - Report+++
    Die Ensembles mischen satte und sanfte Blechsounds mit Elektronik. (picture-alliance/ dpa / Patrick Seeger)
    Ein Konzeptalbum ist - laut lexikalischer Definition - "ein Musikalbum, bei dem die einzelnen Titel nicht isoliert, sondern in ihrer thematischen Beziehung zu den anderen Teilen des Albums als Gesamtwerk betrachtet werden." Der Begriff stammt aus dem Pop-Bereich, ist aber ohne Weiteres auch auf andere Genres anwendbar. Und das umso mehr, als man heute die Existenz strikt getrennter Genres ohnehin infrage stellen darf. In diesem Sinne handelt es sich bei den beiden CDs, die ich Ihnen heute vorstellen möchte, um Konzeptalben.
    Musik: D.M.Visotzky / Béatrice Zavodnik / Leonardo García Alarcón: Schizzi di Orlando Furioso - Schizzo X
    "Schizzi di Orlando Furioso" nennt sich ein Projekt, zu dem sich fünf Musiker unterschiedlicher Herkunft zusammengefunden haben: Sie alle sind Wanderer zwischen den musikalischen Welten, und insofern sind Etiketten nur bedingt tauglich. Sie vermitteln aber vielleicht eine Idee von der stilistischen Bandbreite, die hier vertreten ist. Der Saxophonist D.M. Visotzky und der Kontrabassist Barry Guy kommen vom Free Jazz und von der improvisierten Musik, die Oboistin Béatrice Zawodnik spielt in diversen Neue-Musik-Formationen, wie Ensemble Contrechamps oder Klangforum Wien, der Organist Leonardo García Alarcón wiederum kommt von der Alten Musik her, er ist Gründer und Leiter des Ensembles "Capella Mediterranea". Brice Pauset wiederum ist in erster Linie als Komponist bekannt: Die genaue Kenntnis der musikalischen Überlieferung ist für ihn Grundlage und Voraussetzung des eigenen Komponierens. Wenn er selbst als Interpret auftritt, dann ist sein Instrument, wie auch hier, das Cembalo, und es finden sich immer auch barocke Stücke in seinem Repertoire.
    Als Basis ihrer musikalischen Interaktion wählten die fünf Musiker eines der Monumente der klassischen europäischen Epik, den Versroman "Orlando Furioso" des Ludovico Ariosto, entstanden zwischen 1505 und 1532. Ein Text, der in ganz Europa starke Wirkungen zeitigte und eine breite Spur nicht zuletzt in der Musikgeschichte hinterließ: Die barocke Opernbühne wäre ohne die zahlreichen Stücke kaum denkbar, denen die abenteuerlichen und fantastischen Episoden dieses Textes den Stoff lieferten.
    Wie in der folgenden, die den Ritter Astolfo im Zweikampf mit dem Ungeheuer Orril zeigt: Jedesmal, wenn ihm Gliedmaßen abgehauen werden, vermag er sie sich selbst durch Zauberkraft wieder anzusetzen - und ist auf der Stelle geheilt. Doch Astolfo weiß sich zu helfen:
    Einen zuletzt schlug er von tausend Hieben,
    der zwischen Kinn und beide Schultern fiel.
    Und losgelöst sind Kopf und Helm geblieben.
    Vom Hengst springt Astolf schleunig, wie Orril,
    Hat dann das Roß zur Eile angetrieben
    Und fliegt mitsamt dem Kopfe hin zum Nil,
    Den blut'gen Haarschopf um die Hand gewunden:
    Nie werd' er wieder von Orril gefunden!
    Musik: Barry Guy: Schizzi di Orlando Furioso - Schizzo I
    Die Kontrabasssoli zu Beginn und Schluss der CD gehören zu den wenigen Stücken, bei denen bestimmte Strophen des Gedichtes als Quelle angegeben sind. Und Barry Guy findet das passende Repertoire fremder, geräuschhafter Klänge für die grausig-groteske Szene. Den stilistischen Gegenpol dazu bezeichnet das Orgelsolo, das die Klage des aus Liebe zur schönen Prinzessin Angelica dem Wahn verfallenen Orlando reflektiert:
    Sein Schatten nur, der ist in mir zu schauen
    Zur Warnung allen, die auf Amor trauen!
    Der geistige und körperliche Verfall des einstmals so tapferen und geradsinnigen Ritters findet sich in einer gleichsam lädierten Renaissancemusik widergespiegelt: Die Unterbrechung der Luftzufuhr und die Absenkung des Winddruckes machen den Orgelklang instabil. Die Aufnahmen entstanden in der Stadtkirche im schweizerischen Biel, wo ein entsprechendes Instrument, eine sogenannte "dynamic wind organ" zur Verfügung steht.
    Musik: Leonardo García Alarcón: Schizzi di Orlando Furioso - Schizzo V
    Die Soli bezeichnen stilistische Extremwerte, zwischen denen die Musiker sich bewegen, wobei sich die unterschiedlichen Stile in faszinierender Weise begegnen: Mal gleichen sie einander aus, mal nähern sie sich an, mal einigen sie sich auf ein bestimmtes Idiom, mal prallen die Gegensätze in unverstellter Wucht aufeinander. Es gibt Duos, Trios und Quartette - aber in keinem einzigen Stück spielen alle fünf zusammen: Die Spannung bleibt bis zum Schluss unaufgelöst, die große Integration, die endgültige Versöhnung aller Gegensätze - sie findet nicht statt. Bestimmte Verse sind bei diesen Stücken nicht angegeben, aber es fällt nicht schwer, das "überschwängliche Lebensgefühl", das D.M. Visotzky in einer kurzen Einführung Ariosts Epos zuschreibt, hier wiederzufinden.
    Musik: D.M.Visotzky / Béatrice Zavodnik / Barry Guy / Brice Pauset: Schizzi di Orlando Furioso - Schizzo XXIV
    Inwieweit die Stücke komponiert, inwieweit sie improvisiert sind - das ist wohl von Fall zu Fall verschieden: In jedem Fall ist es ein kollektives Unternehmen, denn als "Komponisten" firmieren jeweils alle an einem Stück beteiligten Musiker. Das Ganze aber gehorcht einem Gesamtplan, der ein Netz gestisch-motivischer Entsprechungen und musikalischer Korrespondenzen über den gesamten Zyklus ausbreitet und die einzelnen "Skizzen", ohne die improvisatorische Freiheit der Musiker zu beeinträchtigen, in einen sorgsam kalkulierten Zusammenhang bringt. Das sorgt für große formale Stringenz und schafft ein spannendes und ausgesprochen kurzweiliges Hörerlebnis.
    Deutlich werden solche Entsprechungen etwa bei Stücken gleicher Besetzung: Etwa in den vier Sätzen für Englischhorn, Saxophon und Orgel. Die klangliche Homogenität dieser Besetzung wird in den Raum projiziert, die Musiker stehen zum Teil weit entfernt voneinander, sind also distinkt von ihren Positionen aus vernehmbar, zugleich aber tendieren die Klangfarben durch die Einwirkung des Halls zur Verschmelzung.
    Musik: D.M.Visotzky / Béatrice Zavodnik / Leonardo García Alarcón: Schizzi di Orlando Furioso - Schizzo XIV
    Auch die neue CD von Melvyn Poore greift auf einen Text der Renaissance zurück: "Death be not proud" aus den "Holy Sonnets" des John Donne, eines Zeitgenossen von Shakespeare. Es begegnet der vermeintlichen Allmacht des Todes mit Verachtung, verspottet seine Requisiten, Gift, Krieg und Krankheit, und schließt mit dem Vers:
    Ein kurzer Schlaf nur folgt, wir wachen ewiglich,
    Du, Tod, wirst nicht mehr sein: Das bringt zu Tode Dich!
    So sehr diese Verse christliche Glaubenszuversicht artikulieren, so sehr mögen sie doch auch das Nachdenken darüber anregen, ob und inwieweit sich die Urangst des Menschen bannen lässt, auch wenn man diese Zuversicht vielleicht nicht teilt.
    Melvyn Poore nimmt diese Verse, oder Teile davon, und flüstert sie in sein Instrument, die Tuba, um, wie er sagt, die Eigenresonanz des Instrumentes anzuregen. Diese Klänge wurden außerdem aufgezeichnet, digital prozessiert und als Samples zugespielt. Es ist weniger eine Interaktion, sondern Selbstbehauptung des Solisten in einer komplexen, fordernden Umgebung: Dem Tod entgegenzutreten, kann auch heißen, im Leben Veränderungen nicht nur hinzunehmen, sondern zu gestalten.
    Musik: Melvyn Poore: Death Be Not Proud (2009)
    Auch Valerio Sannicandros Stück "Sonnet X" bezieht sich auf den Text von John Donne, und auch hier wird man den Sieg über den Tod ganz konkret als kreative Auseinandersetzung mit einem musikalischen Paradigmenwechsel verstehen dürfen: Den roten Faden dieses Programms bilden nämlich verschiedene Modelle der Interaktion von instrumentalem Solo und Computer in Echtzeit. Dazu bieten Sannicandro und Cort Lippes "Music for Tuba and Computer" die fortgeschrittensten Beispiele. Ein bisschen schade ist allerdings, dass das Tuba-Solo dabei auf einen doch recht überschaubaren Satz an Gesten und Spieltechniken reduziert bleibt. Das Spiel mit der Live-Elektronik ist Melvyn Poore erkennbar ein Herzensanliegen - das geht aus dem sehr instruktiven Interview mit Raoul Mörchen hervor, das im Booklet wiedergegeben ist. Und doch bleibt ein leises Bedauern, dass der konkrete Instrumentalklang hier passagenweise recht stereotyp bleibt - zumal Melvyn Poore nun wirklich ein Virtuose seines Fachs ist. Es mag freilich mit dem Mangel an Sololiteratur, auch neuerer, für sein Instrument zusammenhängen, den Melvyn Poore auch ausdrücklich benennt.
    Umso willkommener ist Georg Katzers Beitrag zur neuen CD: "Dialog imaginär 9 für Tuba mit Hegel". Hier ist der Instrumentalpart detailliert mit einer Fülle spieltechnischer Varianten ausgearbeitet - eine differenzierte Erforschung klanglicher Möglichkeiten. Dabei wird das Soloinstrument elektronisch multipliziert: Mal klingt es verzerrt, mal scheint ein ganzer Tubenchor am Werk, mal verschiebt sich der Instrumentalklang ganz allmählich ins Synthetisch-Fremde. In der Mitte des Werks wird spielerisch der bekannte Hegel-Satz ins Spiel gebracht: "Was vernünftig ist, das ist wirklich; was wirklich ist, das ist vernünftig." Kurze Zeit später aber lässt Katzer die Negation folgen. Tatsächlich verflüchtigt sich Hegels emphatischer Wirklichkeitsbegriff in der Multiplizität der Erscheinungen, im Spiel der Täuschungen und Simulacren. Insofern bringt Georg Katzer hier das Kunststück fertig, die neuen Möglichkeiten zugleich zu nutzen und kritisch zu hinterfragen.
    Musik: Georg Katzer: Dialog imaginär 9 für Tuba mit Hegel (2008)