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Neue Netflix-Serie "3 %"
Zwischen Sandstrand und Favela

Mit der Serie "3 %" nimmt Netflix zum ersten Mal eine Produktion aus Brasilien auf. Sie zeigt ein finsteres Zukunftsszenario, in dem drei Prozent der brasilianischen Bevölkerung ein Leben im Paradies und die große Masse das Elendsquartier erwartet. Eine Parabel auf die wachsende Ungleichheit in Zeiten des globalen Kapitalismus.

Von Kai Löffler | 29.11.2016
    In vielen Städten Brasiliens ist der Unterschied zwischen Arm und Reich deutlich spürbar. Zu sehen ist ein Favela in der Stadt Olinda im Bundesstaat Pernambuco.
    Eine Favela in der Stadt Olinda im Bundesstaat Pernamuco: Wie hier ist in vielen Städten Brasiliens der Unterschied zwischen Arm und Reich deutlich spürbar. (imago / ZUMA Press)
    Das Brasilien der Zukunft besteht aus zwei Welten, die hermetisch voneinander getrennt sind - die Slums, in denen der größte Teil der Bevölkerung lebt, umgeben von Dreck und Verbrechen und ohne Perspektive für die Zukunft. Und, weit entfernt, ein Inselparadies, in dem solche Probleme der Vergangenheit angehören. Jeder Bürger bekommt, wenn er 20 wird, eine Chance, dorthin umzusiedeln: den sogenannten Prozess.
    In dieser Welt spielt die Netflix-Serie "3 %", und viel mehr über diese Welt erfährt man nicht. Ein kurzer Text verrät, dass der "Prozess" seit etwas mehr als 100 Jahren entscheidet, wer "Inland" und wer "Insel" bewohnt. Dann stößt die Serie ihre Figuren - und den Zuschauer - ins kalte Wasser.
    Der Prozess übernimmt in der futuristischen Gesellschaft auch die Rolle einer Religion. Vor Beginn der Prüfungen spricht Prozessleiter Ezequiel die traditionelle Danksagung - und die Teilnehmer sprechen sie nach: "Wir sind dankbar für die Chance auf ein besseres Leben."
    Parallelen zur europäischen Realität
    Die paradiesische "Insel" ist eine Zukunftsvision ähnlich der, die einst Star-Trek-Schöpfer Gene Roddenberry erdacht hat. Hier gibt es keinen Streit, keine Rivalitäten. Aber das gilt eben nur für drei Prozent der Gesellschaft, für die, die den "Prozess" erfolgreich abgeschlossen und sich damit ihr besseres Leben selbst verdient haben.
    Um den Favelas zu entkommen, lassen die Menschen nicht nur ihre Familien zurück, viele von ihnen setzen auch bereitwillig ihr Leben aufs Spiel. Die Parallelen zu verzweifelten Flüchtlingen in überfüllten Boten sind, gerade für Bewohner der "Festung Europa", schwer zu übersehen. Bevor es um Leben und Tod geht, lässt sich der Prozess allerdings harmlos an: Einige der Tests, in denen Bewerber ausgesiebt oder "eliminiert" werden, könnten ebenso aus einer Reality-Show stammen - andere erinnern dagegen an das Stanford Gefängnis-Experiment; jenen berühmten Test, der abgebrochen werden musste, als die Probanden einander in "Herr der Fliegen"-Manier an die Kehle gingen.
    Bemerkenswerter Look der Serie
    Junge Menschen, die in einer dystopischen Zukunft um ihr Leben kämpfen kennt man auch aus aktuellen Kassenschlagern wie dem "Maze Runner" oder den "Tribute(n) von Panem". Während aber das Young-Adult-Genre die Science-Fiction-Elemente gerne mal als Tapete für Abenteuer- oder Liebesgeschichten benutzt und in seine Figuren ein gut-böse Schema presst, stellt "3%" komplexere Fragen in den Raum. Mit dem "Prozess" und seinen Gegnern, der Organisation "Die Sache" prallen zwei gegensätzliche Philosophien aufeinander: eine pragmatisch, eine idealistisch, und beide - wenn zuende gedacht - gleichermaßen schrecklich.
    Bemerkenswert ist auch der Look der Serie. Regie führt César Charlone, dessen Kameraarbeit in Filmen wie "City of God" und "Stadt der Blinden" mehrfach ausgezeichnet wurde. Charlone modelliert Licht, extreme Farbkontraste und bewusste Unschärfen zu impressionistischen Handkamera-Bildern; denen verdankt die kantige Zukunftsvision von "3 %" viel von ihrem Charakter.
    Spannend und clever inszeniert
    Die letzten Jahre werden gerne mal als "Goldenes TV-Zeitalter" bezeichnet. Tatsächlich hat das Fernsehen in einer Hinsicht inzwischen die Literatur eingeholt: Es ist schwierig, alle herausragenden Serien zu kennen - und alle gesehen zu haben ist de facto unmöglich. In der Flut von Angeboten ist "3 %" leicht zu übersehen, zumal es für die Serie - ungewöhnlich für Netflix - zwar Untertitel, aber keinen deutschen Ton gibt.
    Der Vergleich mit der "Hunger Games"-Serie, den "Tributen von Panem", mag sich oberflächlich aufdrängen; nüchtern betrachtet hat "3 %" aber mehr mit der misanthropischen Vision eines Aldous Huxley gemeinsam, mit pessimistischen Filmen wie "Children of Men" oder "Gattaca". Das klingt deprimierender als es ist, denn vor allem ist die Serie spannend inszeniert. Das Ensembledrama bietet eine Reihe von Hauptfiguren an, deren Hintergrund sich in "Lost"-Manier über clevere Rückblenden entfaltet; am Ende allerdings - und das ist eine Stärke der Serie, die man nicht genug unterstreichen kann - ist es der Zuschauer selbst, der entscheidet, wie er die Sympathien verteilt.