Aus den Feuilletons

Große Worte und giftige Schuldzuweisung

04:17 Minuten
Notre-Dame in Flammen bei Nacht
Der französische Präsident sagte zum Brand in Notre-Dame: „Das Feuer trifft auch unsere Herzen.“ © imago images | ZUMA Press
Von Hans von Trotha · 17.04.2019
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Der Brand von Notre-Dame in Paris hat weltweit emotionale Reaktionen ausgelöst. In den deutschsprachigen Feuilletons fallen vor allem die unterschiedlichen Strategien der Pathosumgehung ins Auge.
"Liebes Europa, am Rhein, einer Deiner Arterien, bin ich aufgewachsen und nie glücklicher als auf den Autobahnen und in den Zügen, die Dein Territorium ädern." So beginnt ein Beitrag des französischen Schriftstellers Olivier Guez, den die SÜDDEUTSCHE auf Deutsch bringt. "Ach, Europa, Deine Symbole", seufzt Guez. – Ach, ist man spontan versucht, zu antworten: Ihr Franzosen mit Eurem Pathos. Denn wenn es etwas gibt, was die Franzosen immer schon konnten und worum wir sie, wenn wir ehrlich sind, immer beneiden, ist es das große Pathos.
Womit wir bei dieser Woche wären und dem Ereignis, das den französischen Präsidenten ausrufen ließ: "Das Feuer trifft auch unsere Herzen." Es ist aufschlussreich, wie die verschiedenen Feuilletons damit umgehen – man könnte sagen, welche Wege der Pathosumgehung sie am Tag drei nach dem Brand wählen. Christophe Büchi spricht in der NZZ mit Blick auf die Kathedrale von einem "Verhältnis von Distanz und Nähe, das auch in diesen Tagen der Trauer wieder zum Vorschein kommt."

"Goethe schüttelte sich vor Abscheu"

Die SÜDDEUTSCHE fächert das Potenzial von Notre Dame in ihrer ganzen feuilletonistischen Breite auf: Gottfried Knapp zeichnet ihr Bild in der Kunst nach, Fritz Göttler erzählt: "Auch das Kino hat die Kirche zum Mythos gemacht", Helmut Mauró erklärt: "Die Proportionen des Gebäudes prägten die Musik einer ganzen Epoche", und Gustav Seibt widmet sich Victor Hugos Roman "Notre Dame de Paris". Zitat: "Goethe schüttelte sich vor Abscheu".
Bernhard Schulz fügt dieser Kulturgeschichte im TAGESSPIEGEL noch ein Medium hinzu: die koloriere Bildpostkarte. Eine solche, die die von den Deutschen im September 1914 in Brand geschossene Kathedrale von Reims zeigte, wurde in Frankreich lange verkauft. "Der Brand von Paris", schreibt Schulz, "ruft keine vergleichbaren Assoziationen auf. Dass rund um den Globus Menschen entsetzt sind und Anteil nehmen, ist ein gutes Zeichen. Aber auch ein Zeichen dafür, dass die gotische Kathedrale vielleicht doch so etwas ist wie ein Abbild des Himmels." Womit Schulz nicht ganz pathos-frei aus der Sache herauskommt. Er bemerkt außerdem, dass der Staatspräsident "seinen Tageskalender beiseite schob und Worte der Erschütterung fand."

"Schicke EU-Leader"

Und sich umgehend vor Ort einfand. Die TAZ bringt ein Bild, das das Ehepaar Macron vor der brennenden Kathedrale zeigt, mittendrin, aber natürlich sicher. Yasmine M’Bareks Thema sind "Schicke EU-Leader". "Durch den Brand der Kathedrale Notre-Dame", meint sie, "konnte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron das Finale seiner großen nationalen Debatte noch einmal hinauszögern." Und: "Westeuropas liberale Größen sind gut darin, sich als politische Alphatiere zu inszenieren. Wenn es konkret wird, bleiben (sie – gemeint sind) Macron und Lindner aber zu viel schuldig."
Jürgen Kaube prangert in der FAZ einen "giftigen Reflex der Schuldzuweisung" an und nutzt die Gelegenheit, das Verhältnis der Medien im Allgemeinen und seines Feuilletons im Besonderen zur AfD klarzustellen.

"Giftiger Reflex der Schuldzuweisung"

"Die AfD hätte es nicht gewundert, wenn Notre-Dame von Muslimen in Brand gesteckt worden wäre", steht über dem Beitrag. Anlass ist ein Post der AfD Solingen. "Der nämlich", so Kaube, "ist am Montag um 19.49 Uhr zum Brand von Notre-Dame de Paris bei Facebook Folgendes eingefallen: "Würde wohl niemanden verwundern, wenn es ein Anschlag mit islamistischen (!) Hintergrund wäre. Doch noch weiß man nichts genaues (!), aber ob man auch wirklich die Wahrheit später preisgibt? Die Antwort könnte ja die Bürger verunsichern. Die Attacken auf christliche Hoheitszeichen werden in den nächsten Jahren massiv zunehmen, und wir alle wissen warum!"

"Man spielt mit den Gefühlen der Leute, schürt ihre Ängste"

"Über den Klimawandel, die Flüchtlingspolitik, die Staatsquote, die Energieversorgung und dergleichen lässt sich diskutieren", schreibt Kaube. "Über Hetze, deren Voraussetzung Dummheit ist, aber nicht." Und er beschreibt den Mechanismus, der dahinter steht: "Man spielt mit den Gefühlen der Leute, schürt ihre Ängste."
Gustav Seibt bemerkt in der "Süddeutschen" zum Roman "Notre Dame de Paris": "Hugos grell-romantisches Werk besiegelte die Verbürgerlichung des frühgotischen Bauwerks, und damit seine Ästhetisierung." Und damit, so könnte man den Gedanken weiterführen, auch das enorme Potenzial an emotionaler Bindung, das dieses Gebäude entfaltet – die Basis unterschiedlichster Reaktionen, auch giftige Hetze und großes Pathos.
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