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Neue Sensation

Ob Wikileaks als wichtiges Aufklärungsmedium oder aber der Scharlatan der Schein-Information zu gelten hat, ist noch nicht ausdiskutiert. Die Welt der Kulturdiplomatie sollte jedenfalls aufhorchen: Demnächst wird Wikileaks ein ganzes "Kulturkonvolut" mit Interna des deutschen Kulturbetriebs ins Netz stellen.

Eine Satire von Arno Orzessek | 02.12.2010
    Dass die rund 12.500 Dokumente, die Wikileaks in den nächsten Tagen online stellt, dem Deutschlandfunk und nicht dem "Spiegel" zur Sichtung überlassen wurden, erklärt sich leicht:

    Das intern so genannte "Kultur-Konvolut" enthält delikate E-Mails zwischen Julian Assange und den "Spiegel"-Chefredakteuren Georg Mascolo und Matthias Müller von Blumencron.

    Die Mails belegen, dass Assange mit dem "Spiegel " eine Art Knebelvertrag hat. Bis 2013 muss das Nachrichtenmagazin pro Kalenderjahr drei Titel-Storys über Wikileaks-Enthüllungen veröffentlichen, andernfalls wird künftig der "Focus" bevorzugt bedient.

    Nicht nur in diesem Punkt zeigt das Kultur-Konvolut, dass die Hacker, die das Material auf privaten und institutionellen PCs und sogar durch Telefon-Überwachung erbeutet haben, Insider sein müssen mit präzisen Ideen, wo nach dem Skandalösen zu fahnden sei.

    Es steht nun fest, dass Guido Westerwelle während der schwarz-gelben Koalitionsverhandlungen im letzten Herbst die Verantwortung für das Goethe-Institut dem designierten Entwicklungsminister Dirk Niebel zuschieben wollte.

    In einer Sitzungspause machte Westerwelle Niebel auf die vielen Dritt-Welt-Institute aufmerksam und brüstete sich, noch nie eine Zeile von Goethe gelesen zu haben. – 'Ja denkst Du denn, ich?’, fragte Niebel erbost zurück. Woraufhin die FDP-Minister in spe von Anette Schavan, CDU, wissen wollten, ob die Abschiebung des Instituts ins Entwicklungsministerium vom erweiterten Kulturbegriff gedeckt sei. Schavan beschied abschlägig.

    Vorläufig letzter Akt des Ganzen: Nach der Rede, die Westerwelle im Oktober 2010 auf der Jahrestagung des Goethe-Instituts hielt, ohne Institut oder Kultur zu erwähnen, ließ er seinem Ehemann die Nachricht zukommen: "Echt öde war das! Aber der Goethe-Präsident, der Klaus-Dieter Lehmann, der ist schon ziemlich flott."

    Ein weiteres Mal spielt das Auswärtige Amt im Kultur-Konvolut insofern eine Rolle, als dass FAZ-Herausgeber Schirrmacher Marcel Reich-Ranicki um Rezension des Entlarvungsbuchs "Das Amt" bat. Reich-Ranicki möge bitte die zwielichtige Rolle von Ernst von Weizsäcker im Rahmen der Endlösung beleuchten und sich zur Glaubwürdigkeit des Unschuldsengels Richard von Weizsäcker, Bundespräsident a. D., äußern.

    "Mir war immer klar, dass die Weizsäckers mehr braunen Dreck am Stecken haben, als sie zugeben", heißt es im Telefonmitschnitt im RR-Originalton. "Aber ich will daran nicht mehr denken, Schirrmacher. Ich werde bald hundert, und so fühle ich mich auch."

    Dokumente beweisen, was oft vermutet wurde: Roger Willemsen ist der wahre Autor der "Feuchtgebiete". Unbekannt war, dass Charlotte Roche die missratenen Fragmente ihres Erstlings an Helene Hegemann verkauft hat, die daraus "Axolotl Roadkill" machte und ihre eigenen Versuche wiederum an Sarah Kuttner weitergab, die diese aber wegwarf und selbst mit dem Roman "Mängelexemplare" hervortrat – dessen reflexiven Titel man erst jetzt richtig würdigen kann.

    Zu den medizinischen Merkwürdigkeiten zählt die unveröffentlichte Studie, die der Weimarer Neuropsychiater Hartmut Ode über Rüdiger Safranski angefertigt hat. Voller Bewunderung für Safranskis multiple Persönlichkeit, die sich stets dem Autor anverwandelt, über den er gerade eine Biografie schreibt, kommt Ode zu der Erkenntnis, ein schizoider Zug lasse Safranski nun immer fester daran glauben, er sei Friedrich Schiller. Während einer Therapie-Sitzung in Weimar habe ihn Safranski jedenfalls freundschaftlich "Johann Wolfgang" genannt.

    Zuletzt zur Rolle des Sports im Kultur-Konvolut. Es ist nun geklärt, wie Hobby-Rennradfahrer Peter Sloterdijk 2006 trotz seiner bald 60 Jahre und überwiegend sitzend-semantischer Arbeit auf den mythischen Mont Ventoux radeln konnte.

    Aus dem internen E-Mail Verkehr eines Hotels am Fuß des Mont Ventouxs wird ersichtlich, dass die Putzfrauen am Tag vor Sloterdijks Gipfeltour im Badezimmer Epo-Spritzen gefunden haben.

    Die zweieinhalb Stunden Fahrzeit zum Gipfel, die lange Zeit unspektakulär und glaubwürdig erschienen, müssen nun neu bewertet werden. Es liegen private Berichte vor, dass Sloterdijk während des Aufstiegs die wichtigsten Reden aus Nietzsches "Also sprach Zarathustra" vorgetragen hat. Allerdings hat der Philosoph den Text nicht einfach nachgesprochen. Sloterdijk hat Nietzsche gesungen.