Dienstag, 19. März 2024

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Neue VdK-Präsidentin Bentele
Pflegenotstand: "Politik hat viel verschlafen"

Nach Ansicht der neuen Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Verena Bentele, sind die von Jens Spahn angekündigten 13.000 neuen Stellen in der Pflege nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Es fehle ein langfristiges Konzept, um den Pflegenotstand zu stoppen, sagte sie im Dlf.

Verena Bentele im Gespräch mit Stefan Heinlein | 26.05.2018
    Eine alte Frau beim Essen in einem Altenpflegeheim
    Nach Schätzungen des VdK fehlen rund 60.000 Pflegekräfte in Deutschland (imago stock&people)
    Stefan Heinlein: Jung, dynamisch und konservativ. Schon kurz nach seiner Berufung ins neue Merkel-Kabinett machte Jens Spahn regelmäßig bundesweit Schlagzeilen mit Interviews und Stellungnahmen zu fast allen innenpolitischen Fragen sorgte der CDU-Politiker für mächtig Wirbel. Inzwischen jedoch hat sich Jens Spahn offenbar die massive Kritik zu Herzen genommen. Der Gesundheitsminister konzentriert sich stärker auf sein Ressort. In dieser Woche ging er in die Offensive und präsentierte ein Rezept zur Linderung des Pflegenotstands. Aus Berlin dazu ein Bericht von Volker Finthammer.
    Mitgehört hat die neue Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Verena Bentele. Guten Morgen, Frau Bentele!
    Verena Bentele: Schönen guten Morgen!
    Heinlein: 13.000 neue Stellen für die Pflege, wir haben es gerade gehört. Ist das mehr als nur der Tropfen auf dem heißen Stein?
    Bentele: Ja klar, es ist schon ein erster Schritt, aber es ist halt tatsächlich nur ein erster Schritt. Tropfen auf den heißen Stein wäre wahrscheinlich ein bisschen wenig gesagt, aber wir fordern vonseiten des VDK ca. 60.000 neue Stellen in der Pflege, weil wir einfach auch wissen, wie die Arbeitsbedingungen in vielen Pflegeeinrichtungen sind. Da hat eine Pflegerin oder ein Pfleger nachts die Verantwortung für 30 bis 40 Menschen, die dort wohnen und gepflegt werden, und das kann es am Ende auch nicht sein.
    Und wir wissen auch, dass sehr viele Menschen als Pflegerinnen und Pfleger irgendwann aussteigen, weil sie den hohen physischen und auch mentalen Belastungen nicht mehr standhalten. Und deswegen sind mit Sicherheit 13.000 Stellen ein Anfang, aber es kann auch nicht reichen. Und ich bin natürlich auch gespannt, wo die herkommen sollen.
    "Herr Spahn will jetzt mal loslegen"
    Heinlein: Sie haben jetzt bereits viele Punkte angesprochen, Frau Bentele. Lassen Sie uns noch mal kurz über Jens Spahn reden. Ist das vor allen Dingen Symbolpolitik, "ein Witz", wie es Ihr Präsidentenkollege von der Diakonie formuliert hat?
    Die neue VdK-Präsidentin Verena Bentele spricht beim Bundesverbandstag des Sozialverbands VdK Deutschland. Der VdK vertritt als gemeinnütziger Verband mit 1,8 Millionen Mitgliedern sozialpolitische Interessen und bietet ihren Mitgliedern Sozialrechtsberatung.
    Die neue Bundesvorsitzende des VdK, Verena Bentele, sagte im Dlf, die Schaffung von 13.000 neuen Stellen in der Pflege sei nur der erste Schritt, es müssten weitere folgen (Bernd von Jutrczenka/dpa)
    Bentele: Es ist schon so, dass man eben genau sieht, Herr Spahn will jetzt mal loslegen und hat sich überlegt, was könnte ich machen. Ein Witz, na ja. Ich würde es nicht so bezeichnen, weil es ist ja tatsächlich, mit 13.000 Stellen passiert ja was. Es haben Einrichtungen dann im Schnitt eben eine Stelle mehr. Das ist nicht nichts, aber es reicht halt längst nicht aus. Und was ich mir wünschen würde, ist tatsächlich auch mal ein langfristiges Konzept, das eben auch klar jetzt schon sagt, wie wir auch die Betragszahler, die Versicherten schützen, dass nicht die ganze Last wieder die Männer und Frauen tragen, die gepflegt werden, und deren Angehörige, sondern wie wir eben auch ein System haben, wo jetzt beispielsweise wirklich auch die Steuereinnahmen verwendet werden, um in der Pflege eine Finanzierung zu gewährleisten.
    Mir fehlt tatsächlich eine Langfristigkeit, und mir fehlt halt tatsächlich auch mal eine solide Aussage dazu, woher die ganzen Pflegerinnen und Pfleger kommen sollen, wie wir junge Menschen motivieren, in die Pflege einzusteigen. Das ist mir noch nicht schlüssig.
    Heinlein: Über Ausbildung müssen wir gleich auch noch reden, Frau Bentele. Sie fordern 60.000 neue Stellen, das haben Sie gerade gesagt. Da stellt sich natürlich die Frage, wer soll das bezahlen. Geht das nur über höhere Sozialbeiträge? Oder Jens Spahn, der hält die Erhöhung des Pflegebeitrags für unumgänglich.
    Bentele: Genau. Einerseits haben wir natürlich – kam ja auch in Ihrem Beitrag vorhin –, dass wir 30 Milliarden Euro Rücklagen in den Krankenkassen haben. Das ist natürlich auch, finde ich, eine gute Sache. Da wiederum bin ich bei Jens Spahn, dass man da auf jeden Fall eine Querfinanzierung auch machen muss. Das finde ich richtig. Und das Zweite ist natürlich tatsächlich, wie gesagt, dass wir im Moment sprudelnde Steuereinnahmen haben, und ich schon der Meinung bin, dass wir schon auch durch Steuermittel die Pflege finanzieren können und auch sollten. Weil immer nur die Beitragszahler zu belasten, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu belasten, das kann am Ende auch nicht der Weisheit letzter Schluss sein, weil es natürlich auch immer besonders hart dann die Menschen trifft, die sowieso wenig Löhne haben, die vielleicht Teilzeit gearbeitet haben. Deren Beiträge zu erhöhen, wäre dann, finde ich, auch eine kritische Sache.
    "Auf jeden Fall ein Weg, über den man nachdenken muss"
    Heinlein: Sie haben den Stichpunkt Ausbildung gerade angesprochen. Welchen Weg sehen Sie da? Wie realistisch wäre etwa die mögliche Ausbildung von Flüchtlingen für die Pflege? Ist das ein gangbarer Weg?
    Bentele: Das ist auf jeden Fall ein Weg, über den man nachdenken muss und den ich gut finde. Dass wir wirklich gucken, wo können wir Menschen finden, die für Pflegeberufe geeignet sind, die aber auch Spaß haben an der Pflege, die sich gern eben auch für andere Menschen engagieren, und die das für sich aber auch als eine gute Chance sehen. Und die Pflegeausbildung ist in meinen Augen für ganz viele Menschen in Deutschland eine Chance, weil man in der Pflege ja auch über unterschiedliche Wege einsteigen kann. Entweder über ein Studium der Pflegewissenschaften, was ein guter Weg ist. Aber ein genauso guter Weg ist eine Ausbildung, eine dreijährige, oder eben auch eine theoriereduzierte Ausbildung als Pflegehelferin oder Pflegehelfer. Und genau diese unterschiedlichen Möglichkeiten, den Einstieg zu schaffen, das finde ich eigentlich ganz schön, weil wirklich für jeden was dabei ist und jeder mit jedem Schulabschluss eben auch in der Pflege seinen Platz finden kann.
    Und was ich mir auch wünschen würde, ein Nachsatz vielleicht, dass wirklich auch für junge Menschen die Attraktivität des Pflegeberufs noch mal deutlicher gemacht wird. Wenn ich mit jungen Menschen spreche, will irgendwie jeder Zweite ins Büro und hat eigentlich keine konkrete Vorstellung davon, was es sonst noch für Möglichkeiten gibt.
    "Das ist ein Job, wo man direkt mit Menschen arbeitet"
    Heinlein: Was ist denn attraktiv an einem Pflegeberuf? Würden Sie unter den aktuellen Bedingungen einem jungen Menschen tatsächlich raten, den Pflegeberuf zu ergreifen?
    Bentele: Das ist halt immer die gute Frage. Wenn wir mehr Pflegerinnen und Pfleger haben werden bald und eben wirklich auch die jetzt 35.000 unbesetzten Stellen auch besetzt werden und 13.000 neue Stellen besetzt werden, dann würde ich schon sagen, verbessern sich ja die Bedingungen auch, und der einzelne Pfleger, die einzelne Pflegerin haben dann auch mehr Zeit für die Menschen, die dort gepflegt werden. Und das gehört schon auch, finde ich, zu guten Bedingungen, dass man abends oder auch nach dem Nachtdienst morgens nach Hause geht und eben auch ein gutes Gefühl hat. Und das wiederum, denke ich, hat man schon. Es ist ein Job, wo man direkt mit Menschen arbeitet, wo man eine Rückmeldung bekommt von den Menschen, um die man sich bemüht und um die man sich kümmert. Und von diesen Menschen Rückmeldung zu kriegen, Anerkennung zu kriegen, das ist schon, finde ich, ein sehr positiver Aspekt des Pflegeberufs. Und wie gesagt, wenn man für den einzelnen Menschen auch mehr Zeit hat, finde ich, verbessern sich die Bedingungen auch schon maßgeblich.
    "Anerkennung allein ist nicht der Schlüssel"
    Heinlein: Anerkennung, ein gutes Gefühl, sagen Sie, Frau Bentele, reicht das aus, oder geht es letztendlich doch nur über den Geldbeutel? Liegt es daran, dass eben der Pflegeberuf, viele Pflegeberufe, soziale Berufe insgesamt in Deutschland zu schlecht bezahlt sind im Vergleich zu anderen Berufen?
    Bentele: Ja, ich sag das auch immer. Natürlich ist Anerkennung allein nicht der Schlüssel, weil wenn man jetzt in einer Stadt wie Köln, Frankfurt, Berlin, München, Hamburg wohnt, dann ist natürlich das Leben auch entsprechend teuer, und deswegen ist es natürlich auch wichtig, Pflegerinnen und Pfleger gut zu bezahlen. Auch das ist ja Teil des Sofortpakets von Herrn Spahn oder Teil seines Plans, eine tarifliche Bezahlung der Pflegerinnen und Pfleger umzusetzen. Aber mit Sicherheit muss man hier auch noch mal wirklich nachdenken, ob es sein kann, dass in Pflegeberufen und anderen sozialen Berufen die Menschen wirklich so wenig verdienen, dass sie sich, wenn sie beispielsweise Teilzeit arbeiten wegen Kindererziehung oder weil man sich noch um Angehörige kümmert, sich dann ihr Leben gar nicht leisten können und vor allem dann drohende Altersarmut bevorsteht. Da muss sicherlich auch an der Bezahlung noch deutlich was gemacht werden.
    "Viele trauen sich hier überhaupt nicht, irgendwie auf Missstände aufmerksam zu machen"
    Heinlein: Im Ausland, Frau Bentele, vor allem in Skandinavien, aber auch in unserem Nachbarland, in den Niederlanden, ist die Pflege vieler anders und vor allem besser geregelt. Teilen Sie diese Begeisterung? Kann Deutschland von diesen Ländern lernen?
    Bentele: Ich hab gerade neulich einen Herrn getroffen, der als Pfleger in Norwegen gearbeitet hat, und ich kenne auch jemand, die hat in den Niederlanden gearbeitet. Die Menschen berichten mir dort wirklich aus eigenem Erleben und eigenem Erfahren schon, dass dort die Bedingungen in der Pflege besser sind, weil die Menschen besser bezahlt werden, nicht so belastet sind, wirklich auch bessere Gesundheitsvorsorge betrieben wird dort, bessere Präventionsprogramme. Und das andere ist aber natürlich auch, dass dort die Bedingungen nicht ganz so hierarchisch strukturiert sind wie bei uns. Das ist auch eine Sache, die mir hier viele Pflegerinnen und Pfleger erzählen. Viele trauen sich hier überhaupt nicht, irgendwie auf Missstände aufmerksam zu machen, sich mal einzubringen oder ihre Meinung da zu sagen. Das ist mit Sicherheit in anderen Ländern auch ein bisschen anders geregelt.
    "Da hat man sicherlich viel verschlafen vonseiten der Politik"
    Heinlein: Liegt es vielleicht auch daran, dass in Deutschland das Thema Pflege lange Jahre von der Politik, aber auch von der Gesellschaft verdrängt oder zumindest an den Rand gedrängt wurde?
    Bentele: Es hatte sicherlich jahrelang nicht den Stellenwert, das Thema Pflege, den es haben sollte. Da war das eben auch natürlich noch aus einem Gedanken, der, denke ich, von früher kommt, dass früher viele Menschen, die älter waren, eben auch nicht so lange Pflegebedarf hatten, sondern das eher eine kürzere Phase war. Und da gab es eben noch einige Menschen mit Behinderung, die Pflege bekommen, aber ansonsten war das eigentlich nie so ein präsentes Thema, und da hat man sicherlich viel verschlafen vonseiten der Politik, aber auch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und auch, was die gesellschaftlichen Forderungen angeht. Und deswegen ist eben auch wichtig in meinen Augen, dass ein großer Verband wie der Sozialverband VDK Deutschland mit fast zwei Millionen Mitgliedern dieses Thema jetzt wirklich auch oben auf der Agenda hat und sich eben auch um bessere Pflege bemüht.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.