Samstag, 20. April 2024

Archiv


Neue Vergangenheit gesucht

Zehn Jahre, nachdem sich die Meinungsfreiheit in Polen durchgesetzt hat, ist eine bedeutende, eine grundlegende Debatte in Gang gekommen. Man diskutiert die Zeit der nationalsozialistischen Okkupation, die Erfahrungen aus dieser Zeit. Diese Diskussion führt zu einem Dialog mit der eigenen Identität.

Martin Sander | 09.07.2001
    Jan Tomasz Gross, Professor für politische Wissenschaften in New York, geboren 1947 in Warschau...

    Aber es ist auch eine außerordentlich schwierige Diskussion. Denn die Zeit des Zweiten Weltkriegs bedeutet symbolisch für Polen und sein kollektives Gedächtnis unerhört viel. Dieses Land hat Furchtbares unter Hitler und Stalin erfahren. Die Methoden der Okkupation waren unglaublich brutal. Und jetzt soll man plötzlich zur Kenntnis zu nehmen, daß die Opfer - und die polnische Gesellschaft war in jeder Hinsicht Opfer dieser Okkupation - auch zu den Verfolgern gehörten. Das muß man erst einmal mit dieser kollektiven Identität vereinbaren.

    Jan Tomasz Gross interpretiert eine Debatte, die er selbst ins Leben gerufen hat. Vor einem Jahr, im Mai 2000, gab er ein düsteres Kapitel aus der Chronik einer kleinen Stadt im Nordosten Polens der Öffentlichkeit preis. Am 10. Juli des Jahres 1941 hätten die katholischen Bürger von Jedwabne 1600 Juden auf dem Marktplatz zusammengetrieben, mißhandelt, in eine Scheune außerhalb der Stadt gejagt und verbrannt - so die Behauptung von Gross in seinem Buch "Nachbarn". Nicht nur in Jedwabne, auch in einigen Nachbarorten seien Polen nach dem gleichen "Drehbuch" vorgegangen. Als geistige Anstifter kämen zwar in allen Fällen die deutschen Besatzer in Frage, die das Gebiet nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion im Juni 1941 erobert hatten. Doch ausgeführt hätten die Deutschen das Verbrechen nicht. Verantwortlich für den Judenmord von Jedwabne sei vielmehr die "Gesellschaft":

    Das Wort "Gesellschaft" bezieht sich auf die Inschrift eines Denkmals in Jedwabne. Es heißt dort: "Im Gedenken an etwa 180 Menschen, darunter zwei Priester, die in Jedwabne von 1939 bis 1956 ermordet wurden - durch die sowjetische Geheimpolizei NKWD, die Nazis und den kommunistischen polnischen Sicherheitsdienst." Unterzeichnet ist diese Inschrift mit "Die Gesellschaft." Deshalb lautet der letzte Satz meines Buches: "Die Inschrift ignoriert die 1600 Juden von Jedwabne, obwohl sie 'in der Gemeinde von Jedwabne in den Jahren von 1939 bis 1956 ermordet wurden'. Diese 1600 Juden wurden tatsächlich weder von den Nazis noch vom NKWD noch vom polnischen Sicherheitsdienst ermordet, sondern von der Gesellschaft." Gemeint ist natürlich nicht die polnische Gesellschaft, sondern die Gesellschaft des Ortes Jedwabne.

    Seitdem Jan Tomasz Gross seine Thesen zu Jedwabne formuliert hat, ist die Erregung in der polnischen Öffentlichkeit von Woche zu Woche gestiegen, haben sich Zustimmung und Ablehnung gleichermaßen gesteigert. Von einigen werden fast alle seine Aussagen in Zweifel gezogen - vor allem aber die Art, wie Gross die Archive ausgewertet habe.

    In den Jahren 1949 und 1953 war das Verbrechen von Jedwabne bereits Gegenstand eines Gerichtsverfahrens gewesen. Als Grundlage der Anklage diente damals das Zeugnis des Juden Szmul Wasersztajn. Wasersztajn hatte das Massaker, versteckt bei polnischen Nachbarn, als einer von wenigen überlebt. Da die Prozesse von 1949 und '53 unter der Kontrolle der stalinistischen Machthaber stattfanden, denen man Objektivität - wohl zu Recht - nur in begrenztem Umfang zugesteht, wird auch der Aussagewert von Wasersztajns Bericht immer wieder in Zweifel gezogen.

    Einer, der seit Monaten versucht, Gross mit solchen und anderen Argumenten in die Enge zu treiben, ist der Historiker Tomasz Strzembosz. Sein bisheriges Resümee:

    Es gab Menschen, die diese oder andere Taten begingen, weil sie dazu gezwungen wurden. Und es gab solche, die sie freiwillig begingen. Dabei handelt es sich um einen grundlegenden Unterschied. Dann erhebt sich die Frage, wie viele Polen beteiligt waren. Diese Frage ist besonders schwer zu beantworten. Meiner Meinung nach waren ein paar Dutzend Menschen beteiligt. Des weiteren gab es Polen, die zu Zeugen des Verbrechens wurden, die zugeschaut haben. Am wenigsten wissen wir über die Menschen, die von außerhalb kamen. Auf jeden Fall scheint mir, daß die These von Professor Gross, die Gesellschaft von Jedwabne habe dieses Massaker zu verantworten, falsch ist. Sie hält der Wahrheit nicht stand.

    In Sachen Jedwabne betrachtet sich Tomasz Strzembosz als Fürsprecher der schweigenden Mehrheit, einer Mehrheit, von der im Grunde niemand weiß, wie groß sie ist und was sie wirklich denkt. Strzembosz geht es darum, die polnische Gesellschaft von einem Verbrechen zu entlasten, mit dem sie nichts zu tun habe. Von einer maßgeblichen Tatbeteiligung der Deutschen im Judenmord von Jedwabne geht auch Bogdan Musial. Musial ist Mitarbeiter des Deutschen Historischen Instituts in Warschau und in Deutschland bekannt geworden als vehementer Kritiker der Hamburger Wehrmachtsausstellung:

    Das Massaker in Jedwabne war, das kann man aus den Akten herauslesen, organisiert worden. Es gab eine Gruppe, die das geleitet haben. Die haben Boten geschickt an einzelne Bewohner. Die wurden verpflichtet, gewissermaßen Juden zusammenzutreiben. Und das Wichtigste dabei. Allen Aussagen ist die Rede von den Deutschen.

    Seinen Widersachern entgegnet Jan Tomasz Gross:

    Es gibt keine Dokumente, die darauf hinweisen, daß irgendwelche Einsatzkommandos oder Einsatzgruppen, die damals in diesem Gebiet, dem Gebiet von Bialystok aktiv waren, auch in Jedwabne auftauchten. Wenn sich irgendeine Spezialeinheit an diesem Tag in Jedwabne aufgehalten und diesen Mord an 1600 Menschen ausgeführt hätte, dann hätte sie auch darüber berichtet. Denn das war nicht nur ihre Pflicht. Das war auch Anlaß zum Stolz. Aus einem solchen Anlaß konnte man Medaillen bekommen, Sonderurlaub undsoweiter...

    Polnische Historiker suchen derzeit in deutschen, polnischen und weißrussischen Archiven nach Material, mit dem die Anführerschaft der Deutschen in Jedwabne doch noch nachgewiesen werden könnte. An der Aufklärung des Falls von Jedwabne beteiligt sich auch das Institut für Nationales Gedenken, das erst im vergangenen Jahr als eine Art polnische Gauck-Behörde gegründet wurde. Bei einer Exhumierung im Auftrag des Instituts wurden Anfang Juni die Überbleibsel von "nur" 200 Leichen entdeckt. Das hat den Streit um die These von den 1600 Opfern des Massakers erneut entfacht.

    Wie auch immer der Historikerstreit ausgehen wird, bereits jetzt ist Jedwabne zum Synonym für die Suche nach einer neuen Vergangenheitspolitik geworden. Auf dem Prüfstand steht ein lange Zeit allgemeingültiges Geschichtsverständnis. Demzufolge waren sämtliche Ereignisse der Vergangenheit der heroischen Selbstverteidigung einer Nation geschuldet. Doch zwölf Jahre bürgerlicher Demokratie in friedlicher Nachbarschaft haben die ehernen Prinzipien von einst erschüttert - Prinzipien, die im kommunistischen Polen auch mitunter erbitterte politische Gegner, Kommunisten, Priester und Oppositionelle verband. Die kritische Revision der Vergangenheit liegt dabei nicht nur in den Händen einer intellektuellen Minderheit. Staatspräsident Aleksander Kwasniewski, vor der Wende ein kommunistischer Funktionär, später Spitzenfunktionär des heute oppositionellen sozialdemokratischen Bündnisses SLD, ist der prominenteste Fürsprecher eines kritischen Geschichtsbildes. Er kündigte an, am 10. Juli, dem 60. Jahrestag des Massakers, nach Jedwabne fahren zu wollen, um sich dort im Namen der polnischen Gesellschaft bei den Juden zu entschuldigen:

    Auch wenn wir mit immer neuen Tatsachen oder Informationen konfrontiert werden, sollte dabei nicht in Vergessenheit geraten, was als Tatsache bereits unumstößlich ist. Die Deutschen sind zwar Mittäter in dieser Tragödie, indem sie den Zweiten Weltkrieg entfesselt haben. Aber wir sprechen von den konkreten Ereignissen in Jedwabne, an denen sich unsere Landsleute beteiligt haben.

    Die führenden Politiker der größten linken Oppositionspartei Polens, der SLD, unterstützen Kwasniewski in seiner Absicht, ebenso wie die Vertreter der liberalen Freiheitsunion. Aber auch Jerzy Buzek, Ministerpräsident einer Regierung, die von den konservativen und nationalen Parteien der "Wahlaktion Solidarnosc", AWS, gestützt wird, hat sich unmißverständlich zu Jedwabne geäußert.

    Wir sind bereit, auch den düstersten Tatsachen unserer Geschichte ins Auge zu sehen, im Geiste der Wahrheit und ohne vordergründige Rechtfertigungen.

    Mit besonderer Spannung durfte man eine Stellungnahme der katholischen Bischofskonferenz erwarten. Zwar hat Papst Johannes Paul II in der Vergangenheit immer wieder versucht, die Aussöhnung von Juden und Katholiken zu fördern und dabei auch selbstkritisch auf den Antijudaismus in der Kirchengeschichte verwiesen. Doch gerade die polnische Kirche, deren Reihen Karol Woytyla, der Papst, bekanntlich entstammt, war in dieser Frage stets gespalten. Sie ist es auch heute. Die liberalen Katholiken, die sich um das Krakauer Wochenblatt "Tygodnik Powszechny" scharen, haben zwar eine beachtliche Zahl von Kirchenoberen auf ihrer Seite. Doch ihnen steht ein ausgesprochen national-konservativ gesonnener Teil des Klerus gegenüber. Dessen Domäne ist die kleinbäuerliche, immer noch tief im Katholizismus verwurzelte polnische Provinz. Mitunter scheint es, als würde sich dieser Gegensatz in der Person des polnischen Primas, Kardinal Jozef Glemp, spiegeln. Glemp, einer Versöhnungsgeste an sich nicht abgeneigt, lehnte es ab, wie Staatspräsident Aleksander Kwasniewski zum offiziellen Festakt am 10. Juli nach Jedwabne zu fahren. Zudem ließ er verlauten: Wenn sich die Katholische Kirche für die Sünden des Antisemitismus entschuldige, müsse man auch eine Entschuldigung der Juden für die Verbrechen des Bolschewismus in Betracht ziehen. Das hat die Vertreter der polnischen Juden verärgert. Das hat aber auch bei Glemps liberalen Glaubensbrüdern für Irritation gesorgt.

    Vor einigen Wochen wurde schließlich ein Kompromiß zelebriert, ein Gottesdienst für die Opfer von Jedwabne in der Warschauer Allerheiligen-Kirche. Bischof Stanislaw Gadecki verkündete im Namen der polnischen katholischen Kirche:

    Die Anstrengung einer "Reinigung des Gedächtnisses" wird für uns zur schwierigen Aufgabe einer "Reinigung des Gewissens". Wir nehmen diese Aufgabe an und verurteilen noch einmal alle Erscheinungsformen der Intoleranz, des Rassismus und des Antisemitismus, von denen bekannt ist, daß sie eine Sünde darstellen.

    Eine Tafel an der Allerheiligen-Kirche erinnert seit neuestem an die Polen, die während des Zweiten Weltkriegs unter Einsatz des eigenen Lebens verfolgte Juden retteten. Das Sündenbekenntnis des Episkopats ist von den Vertretern der polnischen Juden mit Reserve aufgenommen worden, und Anhängern einer christlich-jüdischen Aussöhnung innerhalb der Katholischen Kirche geht dieses Bekenntnis noch längst nicht weit genug. Anderen allerdings geht es bereits zu weit. Zu ihnen gehört Edward Orlowski, der Priester von Jedwabne. Die historische Debatte, die sich mit dem Namen seiner Stadt verbindet, sei, so behauptet er, vor allem gegen deren heutige Bewohner gerichtet:

    Wir empfinden diesen Druck, und wir empfinden die Ungerechtigkeit. Über eine Lüge kann man nicht diskutieren. Und selbst wenn so etwas hier geschehen sein sollte, dann ist es doch schon sechzig Jahre her.

    Im Schaukasten vor der Kirche von Jedwabne hängen Flugblätter. Nationalistische Ergüsse, Antisemitisches - die bizarre Polemik gegen polnische Politiker, die einer Entschuldigungs- und Versöhnungsmanie verfallen seien, verworrene Gedankenketten, die beispielsweise in die Frage münden, wer denn unter den im polnischen Staat mitregierenden Juden bereit sei, sich für 5.000 Selbstmorde nebst Alkohol- und Drogentoten jährlich zu entschuldigen. Edward Orlowski, der Priester, beteuert allerdings:

    Wir sind keine Antisemiten. Wissen Sie, die Menschen hängen dort verschiedene Bekanntmachungen aus - in diesen Schaukästen. Wenn da wirklich was Antisemitisches hängt, dann werden wir es entfernen, selbstverständlich.

    Längst ist Jedwabne zu einem Wallfahrtsort polnischer Rechtsradikaler geworden. Die kleine Stadt im strukturschwachen Nordosten Polens bietet sich dafür geradezu an. Ein Drittel der Bevölkerung ist arbeitslos - inoffiziellen Schätzungen zu Folge. Seit der Einführung von Marktwirtschaft und parlamentarischer Demokratie vor rund zwölf Jahren hat sich dort kaum etwas zum Besseren gewendet. Die polnische und internationale Debatte über das Verbrechen, das sich inzwischen mit dem Namen von Jedwabne verbindet, hat viele Bewohner verunsichert und Abwehrreaktionen provoziert. Die werden nicht nur vom örtlichen Priester aufgegriffen, sondern von Volkstribunen unterschiedlicher Provenienz in ganz Polen ausgenutzt. Offene antisemitische Agitation wird von der Gefolgschaft Leszek Bubels betrieben. Bubel, ein wegen Kapitalverbrechen vorbestrafter Juwelier, trat bereits mehrfach als Präsidentschaftskandidat an. Als Verleger gebietet Bubel über einige rechtsradikale Gazetten, die über den staatlichen Presseversand "Ruch" in die Kioske gelangen. Janina Paradowska, Journalistin und Kommentatorin des Wochenmagazins "Polityka", beschreibt die rechtsextreme Szene allerdings als derzeit weitgehend führungslose Gesellschaft:

    Ein Lager der radikalen nationalen Rechten hat sich in Polen bislang noch nicht formiert. Es gibt keinen markanten Führer. Es gibt einige verstreute Gruppen, darunter leider auch antisemitische. Es gibt dort ein paar Leute, aber das sind keine politischen Führer. Leszek Bubel zum Beispiel, der bei mehreren Präsidentschaftswahlen kandidiert hat, ist jedesmal kläglich gescheitert. Er hat stets die geringste Stimmenzahl bekommen. Das kann man nicht ernst nehmen. Zweifelsohne gibt es in Polen eine Wählerklientel, die zwar nicht offen antisemitisch ist, die sich aber einen verdeckten Antisemitismus erlaubt, der von Generation zu Generation übermittelt wird. Diese radikal-nationalistische Klientel würde ich auf fünf bis sieben oder acht Prozent schätzen. Das sind diejenigen, die stets die gesamte polnische Geschichte verteidigen.

    Der Einfluß der politischen Rechten in Polen ist ebenso schwer überschaubar wie ihre organisatorische Gestalt. Eine Vielzahl von Parteien tritt in wechselnden Wahlbündnissen in Erscheinung. Ein Teil dieser rechten Gruppen ist auch über ihre Zugehörigkeit zur "Wahlaktion Solidarnosc" an der Regierung beteiligt. Die "Wahlaktion" ist in den vergangenen Jahren von einer Krise in die andere gestolpert. Sie hat ihren ursprünglichen Koalitionspartner, die liberale Freiheitsunion, verloren und zerfällt zusehends am eigenen rechten und linken Rand. So hat sich von einer der Parteien der "Wahlaktion", der Christlich-Nationalen Vereinigung, bereits 1999 die ausgesprochen europafeindliche und ultranationalistische Polnische Allianz abgespalten. Deren Führer, Jan Lopuszanski, ist zwar selbst noch nicht durch antisemitische Äußerungen hervorgetreten. Hinter ihm steht aber das in dieser Hinsicht berüchtigte "Radio Maria", das sich stets hoher Einschaltquoten erfreut. Der landesweit sendende Hörfunksender unter Leitung des Thorner Redemptoristen-Paters Rydzyk propagiert - obwohl von der polnischen Bischofskonferenz dafür gerügt - mit neuen Akzenten alte Feindbilder. "Radio Maria" zufolge betreibt die Europäische Union gemeinsam mit den bürgerlichen polnischen Politikern einen Ausverkauf des Abendlands unter jüdischer Regie.

    Der deutsche Politikwissenschaftler Georg Strobel schätzt das für derlei Parolen prinzipiell empfängliche Publikum in Polen auf bis zu 20 Prozent des Wählervolks. Das mag übertrieben sein. Tatsache ist jedoch, daß sich auch Teile der parlamentarischen Rechten auf Traditionen stützen, die im krassen Gegensatz zu den Ideen einer offenen Gesellschaft stehen. Doch sogar Vertreter der bürgerlichen Mitte tun sich schwer mit einer Kritik an der polnischen Vergangenheit. Jan Maria Rokita, Chef der Konservativen Volkspartei, formuliert es so:

    Während man mir dieses außerordentlich schändliche Verbrechen schildert, für das ich mich als Pole verantwortlich fühle, erwartet man immer häufiger von mir, daß ich mit der nationalen Tradition überhaupt breche, daß ich sie verurteile, daß ich mich fühlen sollte wie jemand, dessen nationale Vergangenheit schlecht ist, ja schändlich. Und das lehne ich ab. Ich halte diese Vergangenheit für großartig.

    Im Sepember dieses Jahres wird in Polen ein neues Parlament gewählt. Experten gehen übereinstimmend davon aus, daß die polnischen Wähler ihre Entscheidung nicht nach vergangenheitspolitischen Gesichtspunkten fällen werden, sondern danach, welcher Partei sie wirtschafts- und sozialpolitische Kompetenz zutrauen. Und hier liegt das oppositionelle Linksbündnis SLD, zugleich die Partei von Staatspräsident Kwasniewski seit einiger Zeit vorn - den letzten Meinungsumfragen zufolge mit rund 40 Prozent der Stimmen.

    Doch auch wenn sich die Debatte über "Jedwabne" nicht unmittelbar auf die Ergebnisse der Parlamentswahlen auswirken sollte, so markiert sie jedenfalls den Beginn eines anderen offiziellen Umgangs mit der Vergangenheit in Polen. Wenn die Rechnung von Jan Tomasz Gross aufgeht, entstünde am Ende ein neues, kritisches Nationalbewußtsein. Für die europäische Integration Polens könnte diese Entwicklung nur förderlich sein.