Mittwoch, 24. April 2024

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Neuer Bildband
Die Berliner Mauer als Gesamtkunstwerk

Mehr als 50 Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer und 25 Jahre nach dem Mauerfall ist ein Fotoband erschienen, der die Grenzanlage in ihrer gesamten Länge dokumentiert - ein einzigartiges Zeugnis.

Von Simone Hamm | 04.03.2015
    Graffitis auf der Westseite der Berliner Mauer am 29. April 1984
    Graffitis auf der Westseite der Berliner Mauer am 29. April 1984. (AFP / JOEL ROBINE)
    1984 setzten sich die Kölner Fotografen Burkhard Maus und Philipp J. Bösel in einen VW Käfer und fuhren nach Berlin. Sie hatten ein ehrgeiziges Projekt vor: Sie wollten die gesamte Berliner Mauer von Westberliner Seite aus fotografieren, von der Bernauer Straße bis zum Treptower Dammweg - über 18 Kilometer.
    "Zehn Tage lang Meter für Meter mit dem Stativ bei Winter und Wetter, Kälte und Wärme und Regen sich dazu bewegen, ist ja nicht gerade amüsant. Nach zehn Tagen waren wir auch froh, dieses Thema beendet zu haben."
    Erinnert sich Burkhard Maus. Da hatten sie über 1.100 Schwarz-Weiß-Fotos gemacht. 30 Jahre lang lagerten die Fotografien in einer Garage. Nur ein einziges Mal wurden alle Fotos ausgestellt: 1985 in Aarhus in Dänemark. Im selben Jahr erwarb die Bibliothèque Nationale de France die Kontaktbögen.
    Jetzt sind die sämtlichen Aufnahmen der Mauer in dem Bildband: "Die Berliner Mauer von Westen aus gesehen" veröffentlicht worden. Jedem Bildband ist der Abzug einer Fotografie beigelegt worden. Die Fotografien sind nüchtern und kühl. Da Maus und Bösel ihre Fotos selbst entwickeln wollten, entschieden sie sich für Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Und zeigten so nicht nur die Mauer, sondern gaben, wie Philipp Bösel betont, auch eine Stimmung wieder:
    "Die Mauer ist nur grau. Sie war grau in grau und die Fotos haben auch genau das wieder gespiegelt, was sie eigentlich auch ist."
    Besser als in Schwarz-Weiß hätte man die Mauer nicht dokumentieren können.Ein Mondgesicht, ein Strichmännchen mit drei Haaren: "smash" hat jemand daneben geschrieben. Dies ist das Titelbild des Fotobandes. Ein Mann geht an der Mauer entlang, auf der an dieser Stelle "a walk on the wilde side" geschrieben steht. Das 'A' im Kreis, das Anarchozeichen, Herzen mit Pfeilen, Blitze, das sind beliebte Motive. Jemand hat einen Kranz vor die Mauer gestellt. Erinnerung an einen, der versucht hatte, aus der DDR zu fliehen und dabei erschossen worden ist. Bäume, Sträucher, die die Mauer fast verdecken. Ein Wartehäuschen an einer Bushaltestelle. Wartende. Gemalte Treppen, als könne man, wenn sie heraufschritte, die Mauer überwinden. Punker, mit Sicherheitsnadeln in den Ohren, freundliche Hunde, witzige Fabelwesen grinsen von der Mauer herab. Paare haben ihre Namen auf die Mauer gepinselt. Und ein Datum gleich dazu.
    Doppeldeutiger Titel
    Burkhard Maus und Philipp Bösel gaben ihrer Arbeit den Titel: "Die vermessene Mauer"
    "'Die vermessene Mauer'. Vermessen in doppeldeutiger Hinsicht, nicht gerade eine, die mit dem Zollstock Maß nimmt, aber so in dieser Richtung gehend, vermessen soundsoviel Kilometer, und zum anderen vermessen im Sinne der Arroganz, Kommunikation zu verhindern, indem man eine Mauer baut."
    Erläutert Maus.
    Aber die Kommunikation ist ja nur einseitig verhindert worden, nämlich höchstens, dass man sich nicht sehen konnte, aber dass im Westen die Menschen auf die Mauer geschrieben haben. Die haben daran geschmiert, die haben Botschaften gesandt, die haben gemalt.
    Auf den ersten Blick meint man, man halte - vom Vorwort einmal abgesehen - einen Bildband ohne Text in den Händen. Sexus Fotografien auf jeder Seite. Doch dann begreift man: der Text steht auf der Mauer. Graffitis und Sprüche, die Burkhard Maus nicht immer passend fand:
    "Ich erinnere mich, als wir anfingen, es war ein strahlender blauer Morgen, viele hohe Bäume, die Schatten über die Mauer war, da stand da geschrieben. 'Guten Morgen, ich liebe Dich.' Und ich war grad damals in so einer Stimmung, zwar einseitig verliebt, aber immerhin, da erinnere ich mich sehr. Und es war natürlich auch makaber, Dinge zu lesen wie so etwas wie 'Guten Morgen, ich liebe Dich', wenn man weiß, was hinter der Mauer passierte oder vor der Mauer passierte."
    Die Aufnahmen sind streng grafisch aufgebaut: Ein Stückchen vom Himmel ist zu sehen, auch die oberen Etagen von Häusern hinter der Mauer. Manchmal sind unten vor der Mauer Gräser, Sträucher, Bäume zu sehen. Die Mauer selbst füllt Dreiviertel eines Bildes aus. Man könnte alle Fotografien nebeneinanderlegen. Dann entstünde ein einziges großes zusammenhängendes Panoramabild. Bisweilen mussten die Fotografen neu ansetzen, ein anders Objektiv nehmen. So gibt es Überschneidungen. Ein Buchstabe, der ganz rechts auf der Mauer steht, erscheint im nächsten Bild noch einmal, ganz links. Doch das macht die Arbeit umso authentischer. Es gibt auch keine Seitenzahlen, Man kann auf jeder Seite, an jeder Stelle mit dem Betrachten und Lesen beginnen und überall wieder aufhören.
    Das einzige Zeugnis der kompletten Mauer
    Die Berliner Mauer ist eine konzeptfotografische, eine dokumentarische und eine politische Arbeit. Die Grenzübergänge haben Philipp Bösel und Burkhard Maus nicht fotografiert. Ihre Mauer ist undurchdringlich.
    "Wenn wir die Übergänge mitfotografiert hätten, gäbe es in dem Zusammensetzten der Fotografien immer einen Bruch. Wir hätten nicht mehr den grafischen Aufbau gehabt. Und hätten dann eben eine Öffnung oder einen Wachturm dazwischen. Das wollten wir nicht. Wir wollten eigentlich die undurchlässige Mauer komplett abfotografieren, dass sie eben nicht durchlässig war, das eben nicht von Osten nach Westen durchgegangen werden konnte.
    Erklärt Philipp Bösel. Burkhard Maus wird politischer:
    "Ich habe mich auch immer geweigert, die Übergänge sprich, die Durchlässe zu photographieren. Wir werden uns nicht für den Kalten Krieg einsetzen. Wir haben auch nicht über die Mauer fotografiert. Ich bin nie auf dieses Podest gegangen, um von dort aus wie auf einem Hochsitz in einem Wald darüber zuschauen, wie hinter der Mauer Menschen sich bewegen. Ich hab das immer vermieden, weil ich das unanständig empfand."
    Von der Berliner Mauer ist nicht viel mehr geblieben als Mauerstücke, die als Mahnmal gelten und Steine, die als Souvenirs verkauft werden. Die Mauer ist zum Symbol der Spaltung Deutschlands geworden. Umso wichtiger ist der Bildband: "Die Berliner Mauer von Westen her gesehen". Es ist das einzige Zeugnis der kompletten Berliner Mauer. Burkhard Maus und Philipp J. Bösel lassen das Symbol wieder konkret werden. Sie zeigen die ganz reale Mauer. Ihr Blick durch die Kameralinse ist kühl, streng, überaus präzise. Man kann nicht nur lesen, was auf der Mauer steht, man kann die Mauer selbst lesen.
    Philipp J. Bösel & Burkhard Maus: Die Berliner Mauer 1984 von Westen aus gesehen. 224 Seiten. 1144 Abbildungen. Kettler Verlag. 75 Euro.