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Neuer Bundestag nimmt Arbeit auf

Die konstituierende Sitzung des 18. Deutschen Bundestages steht bevor. Vieles wird anders sein als in den meisten vorangegangenen Legislaturperioden. Zum einen, weil erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die FDP nicht vertreten sein wird. Darüber hinaus könnte es eine so kleine Opposition geben wie selten.

Von Gudula Geuther, Frank Capellan und Stefan Maas | 21.10.2013
    Alles muss perfekt sein, wenn sich morgen am späten Vormittag der neue, der 18. Deutsche Bundestag konstituiert. Deshalb wurde in den vergangenen Tagen im Plenarsaal unter der Reichstagskuppel viel geschraubt. Es wurden Tische abgebaut, neue aufgebaut; Stühle verschoben und Kabel neu gelegt.

    Seit der Wahl am 22. September ist klar: Die Sitzordnung im Plenum wird ganz anders sein als in der letzten Wahlperiode. Nicht nur weil in der 18. Legislaturperiode mit 631 Abgeordneten elf mehr im Parlament sitzen als noch in den vergangenen vier Jahren, sondern vor allem, weil zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik die FDP nicht vertreten sein wird.

    Nur noch vier Fraktionen gehören dem Bundestag an. Und weil die FDP nicht dazu zählt, fehlt auf dem neuen farbigen Sitzverteilungsplan, der bereits auf der Internetseite des Bundestags steht, die Farbe Gelb. Dieser Fraktionsblock – vom Präsidenten aus gesehen rechts – ist verschwunden beziehungsweise schwarz. Denn die Fraktion von CDU und CSU ist zahlenmäßig massiv angewachsen. Mit 311 Sitzplätzen reicht sie fast bis in die Mitte des Plenarsaals.

    "Es werden halt die Wege durch die einzelnen Reihen jeweils nach links verschoben. Damit die CDU/CSU mehr Platz hat. Mehr zusammenhängende Plätze am Stück",

    sagt Hans-Holger Glunz, während er halb unter einer der Tischreihen kniet und einige Schrauben festzieht. Seine Kollegen und er hatten sehnsüchtig auf die Sitzung des Vor-Ältestenrates am vergangenen Dienstag gewartet. Dort wurde festgelegt, wie die Abgeordneten-Plätze für die kommenden vier Jahre angeordnet werden. Danach hieß es für die Handwerker: ranklotzen. Denn bis zur konstituierenden Sitzung muss alles perfekt sein. Das heißt: Die blauen Sessel müssen am richtigen Platz verankert, die Frontplatten der Tischchen, die es nur in den ersten Reihen gibt, gerade ausgerichtet, Mikrofone und Telefone richtig verkabelt sein. Vier bis fünf Tage Arbeit.

    "Der Aufbau dauert ein bisschen länger als der Abbau. Kannst’e die Schrauben rausdrehen, stellst es weg. Und beim Aufbau muss wieder alles in einer Ebene sein, muss ja alles passen."

    Unangetastet bleiben dabei nur wenige Plätze. Zum Beispiel die des Kabinetts - aus Sicht der Abgeordneten sitzen die Regierungsmitglieder links neben dem Bundestagspräsidium. Allerdings wird die Regierungsbank morgen leer bleiben. Denn Angela Merkel und ihre Ministerinnen und Minister der schwarz-gelben Koalition sind bis zur Wahl eines neuen Kanzlers nur noch geschäftsführend im Amt. Die Bundeskanzlerin und ihre Minister von CDU und CSU werden - wie alle anderen gewählten Abgeordneten - im Plenum sitzen. Die Minister der FDP aber – ob etwa Guido Westerwelle, Philipp Rösler oder Sabine Leutheusser-Schnarrenberger - müssten oben auf der Gästetribüne Platz nehmen. Und werden der konstituierenden Sitzung deshalb wohl fern bleiben, wie ein Sprecher der Partei erklärte.

    Eröffnet wird die erste Sitzung des neuen Bundestags traditionell durch den Alterspräsidenten. Diese Ehre wird erneut dem "Mann mit der Fliege" zuteil, wie der 77-jährige Heinz Riesenhuber, CDU-Politiker aus Hessen, wegen seines markanten Kleidungsstücks gerne genannt wird.

    Tagesordnungspunkt zwei ist die Wahl des Bundestagspräsidenten, wobei klar ist, dass der alte auch der neue sein wird: Norbert Lammert von der CDU. Ob ihm vier oder künftig sechs Stellvertreter zur Seite gestellt werden, darüber wird morgen ebenfalls entschieden. Union und SPD werden die Aufstockung des Präsidiums beantragen und mit einer steigenden Arbeitsbelastung des Deutschen Bundestags durch mehr Sitzungen und Kompetenzen begründen.

    Die Frage, wer im Plenarsaal vorne sitzen darf, ist aber auch für die Fraktionen wichtig, denn die Plätze in der ersten Reihe sind begehrt, weil gut bei Fernsehübertragungen zu sehen. Je breiter die Spitze des Fraktionsblocks, desto bedeutender – quantitativ, aber auch politisch - ist die Partei. Folglich dürfen bei der Union sieben, also einer mehr, in der ersten Reihe sitzen. Die SPD bekommt fünf statt bisher drei Plätze. Und die beiden kleinen Fraktionen, die Linke und die Grünen, bekommen jeweils zwei Sitze.

    "Also, ich bin ganz zufrieden mit der Lösung für die grüne Fraktion",

    sagt die neu gewählte Parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion, Britta Haßelmann. Auch wenn die Grünen hinnehmen müssen, dass hinter einem ihrer Fraktionsvorsitzenden noch ein einsamer Unionsabgeordneter sitzen wird, weil die Platzverteilung sonst nicht aufgeht.

    "Wir haben zwei Fraktionsvorsitzende, und wir werden in der ersten Reihe zwei Sitze haben. Und ich hatte den Eindruck, dass jetzt alle Fraktionen mit dem Vorschlag, der gemacht wurde vonseiten der Verwaltung, wirklich auch einverstanden sind."

    Dabei ist die Platzverteilung eigentlich nicht abhängig von der Freundlichkeit der großen gegenüber den kleinen Fraktionen - sondern Ergebnis einer mathematischen Formel. Dennoch erkennt auch Petra Sitte, die neue parlamentarische Geschäftsführerin der Linken, ein positives Signal der vielleicht künftigen Koalitionsmehrheit:

    "Das war eher ein gutes Zeichen, das war ein kooperativer Ansatz. Ich finde ohnehin, dass das der Stil sein sollte im Bundestag überhaupt. Sich also aufeinander zuzubewegen und intelligent miteinander zu kooperieren. Und das hoffe ich auch, dass sich das über diese Legislaturperiode weiter fortsetzen wird."

    Dass es eng wird in der ersten Reihe, ist nicht ganz neu. Aber die deutlich gewachsene Unionsfraktion und die der SPD dominieren das Plenum besonders. Kommt es zu einer Großen Koalition, stehen ihnen nur noch zwei Oppositionsfraktionen gegenüber - mit gemeinsam 127 Sitzen, gerade mal guten 20 Prozent. So etwas hat es sogar schon einmal gegeben. 1966 bei der ersten Großen Koalition unter Kurt-Georg Kiesinger hatte die einzige Oppositionspartei FDP weniger als eines von zehn Mandaten inne. Das letzte Mal dagegen, 2005, verfehlten FDP, Linke und Grüne nur knapp die 30-Prozent-Marke. Auch das alarmierte damals Abgeordnete und Verfassungsrechtler. Denn viele Minderheitenrechte waren an das Quorum der 30 Prozent gekoppelt. Etwa das Recht, mit der abstrakten Normenkontrolle ein Gesetz in Karlsruhe vorzulegen. Damals fand die Opposition Gehör bei den Kollegen im Parlament: das Quorum wurde geändert.

    "25 Prozent haben wir erkämpft, weil wir dachten, 25 Prozent wird die Opposition ja immer zusammenbringen – man lernt nie aus",

    sagt der scheidende grüne Rechtpolitiker, Jerzy Montag. Man lernt nie aus: Sollte es zu einer Großen Koalition kommen, würden fast fünf Prozent fehlen.

    "Ja, das werden wir uns dann genau angucken, aber dass die Opposition so schwach ist, ist nicht die Schuld der Parlamentsmehrheit",

    so die lakonische Bemerkung von Wolfgang Bosbach von der CDU - als das Problem langsam klar wurde.

    "Das Bundesverfassungsgericht hat ja die Rechte der Opposition sehr hoch gehängt. Damit ergeben sich demokratische Verpflichtungen auch für die anderen Fraktionen, für die Regierungsfraktionen",

    entgegnet Petra Sitte, die Parlamentarische Geschäftsführerin der Linken. Und die anderen drei Fraktionen sind inzwischen – zumindest theoretisch – ihrer Meinung. Das ist nicht nur politisches Entgegenkommen, das muss sein, sagt Lerke Osterloh, Staatsrechtlerin und bis vor kurzem Richterin am Bundesverfassungsgericht. Denn so, wie das Grundgesetz die parlamentarische Demokratie gestaltet, sind die Regierungsfraktionen eng mit der Regierung verknüpft.

    "Wesentliche Aufgaben des Parlamentes, Öffentlichkeit herzustellen und Kontrolle gegenüber der Regierung auszuüben, fallen im parlamentarischen Regierungssystem der Opposition zu."

    Dennoch: Verhandlungen über die Minderheitenrechte dürften trotz guten Willens beider Seiten zäh werden. Denn die Grenze ist gar nicht so leicht zu ziehen. Es gibt einige Rechte, die Parlamentarier-Quoren aufstellen. In der Diskussion über das Problem wird immer vor allem auf eines verwiesen: auf die Möglichkeit, die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses zu verlangen – das Kampfinstrument der Opposition. Auch da gibt es Signale von Seiten der großen Fraktionen: Sollte das nötig sein, sollte es zur Großen Koalition kommen, dann werde man dieses Problem irgendwie lösen. Nur – damit ist es noch nicht getan.

    "Es trifft aber auch die Enquete-Kommission, die Einrichtung einer Enquete",

    zählt die erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Britta Haßelmann, auf.

    "Und es trifft zum Beispiel die Frage von öffentlichen und nicht öffentlichen Anhörungen für Gesetzentwürfe. Weil da sind wir ja darauf angewiesen, dass wir externen Fachverstand einbeziehen, dass die Medien präsent sein können bei solchen öffentlichen Anhörungen und die Abwägung der Argumente hören."

    Einberufung des Bundestags oder die Entscheidung darüber, wann welche Themen im Plenum behandelt werden – es stellen sich viele Fragen. Petra Sitte glaubt:

    "Es wird keine Pauschalantwort geben können. Wir werden Punkt für Punkt durchgehen müssen, wo Minderheitenrechte der Opposition berührt sind und unter Umständen dann auch differenzierte Lösungen finden müssen."

    Zu differenzierten Einzellösungen rieten heute in einer Anhörung der Grünen-Fraktion auch Verfassungsrechtsexperten. Denn Minderheitenrecht ist nicht gleich Minderheitenrecht. Bei der abstrakten Normenkontrolle, der Möglichkeit also, ein Gesetz nach Karlsruhe zu tragen, das man nicht als Verletzung eigener Rechte, sondern einfach als verfassungswidrig ansieht, glaubten die Staatsrechtler nicht, dass dies der Opposition unbedingt zustehen müsse. Anders bei Untersuchungsausschüssen; anders, so Lerke Osterloh, auch beim Rederecht.

    "Die bisherigen Regeln sehen vor, dass die Redezeiten proportional zu den Fraktionsstärken verteilt werden. Das führt dazu, dass etwa bei einer halbstündigen Diskussion die beiden voraussichtlichen Minderheitenfraktionen, nämlich die Grünen und die Linken, jeweils von der halben Stunde nur fünf bis sechs Minuten zur Verfügung hätten. Bei einer solchen Redezeitverteilung kann wohl kaum die Rede sein von einem lebendigen, streitigen Dialog im Parlament und von dem Prinzip, dass erst Rede und Gegenrede die demokratische Auseinandersetzung strukturieren."

    Mindestens in einem Punkt geht es den kleinen Fraktionen inzwischen besser als in früheren Legislaturperioden, auch wenn das mit Minderheitenrechten gar nichts zu tun hat. Am 22. September wurde erstmals das neue Wahlrecht angewandt. Wonach Überhangmandate zwar weiterhin möglich sind, aber zugunsten der Kleinen ausgeglichen werden. Beobachter hatten zuvor befürchtet, dass der Bundestag deshalb überdimensional aufgebläht würde. Das hat sich mit vier Überhangmandaten jetzt nicht bestätigt.

    Ein anderes Problem ist dafür diesmal schärfer aufgetreten als bei anderen Wahlen: Da FDP und AfD unter fünf Prozent blieben, aber doch recht stark waren, konnten regional auch andere kleine Parteien punkten. Allerdings nicht genug. In Bayern zum Beispiel gingen für die Freien Wähler und die ödp besonders viele Stimmen verloren.

    "Mit dem Ergebnis, dass da also nun 15 Prozent der Stimmen ganz anderen Parteien zugute kamen als denen, für die sie abgegeben worden waren",

    beklagt der parteienkritische Staatsrechtler Hans-Herbert von Arnim. Er glaubt nicht, dass das Bundesverfassungsgericht die Fünf-Prozent-Hürde zu Fall bringen könnte. Denn anders als bei der Wahl zum Europäischen Parlament betonen die Richter bei der Wahl zum Bundestag immer wieder, dass dessen Zersplitterung vermieden werden sollte. Von Arnim hat aber eine andere Idee: Er nennt das Eventualstimme.

    "Die also bedeutet, dass die Bürger, die eine Partei gewählt haben, die unter die Fünf-Prozent-Klausel gefallen ist und deren Stimme deswegen nicht nur nicht zum Zuge kommt, sondern auch noch den Konkurrenzparteien zugute kommt, dass die dann eine Zusatzstimme ankreuzen können und damit sagen können: Wenn die erstgewählte Partei unter die Sperrklausel fällt, wem die Stimme dann zugute kommen soll."

    Auch diese Variante würde erst einmal den großen Parteien nutzen. Aber der Wähler könnte entscheiden, wem. Und von Arnim glaubt darüber hinaus, dass mittelbar doch auch die kleinen profitieren. Denn der Wähler müsste keine Angst mehr haben, seine Stimme an sie zu verschenken. Noch läuft die Frist für die Wahlbeschwerde. Legt der Staatsrechtler keine Beschwerde ein, wird es wohl die ödp tun; das jedenfalls hat sie angekündigt. Eine solche Entscheidung würde in jedem Fall ihre Wirkung nur für die Zukunft entfalten. Erst einmal müssen die frisch gewählten Abgeordneten an die Arbeit gehen.

    Nur - vor der parlamentarischen Arbeit steht der Stillstand, und das liegt an den Koalitionsverhandlungen. Natürlich werde viel getan, sagt die Grüne Britta Haßelmann.

    "Aber wir können noch nicht den parlamentarischen Betrieb im Sinne Ausschussberatungen, Ausschusssitzungen, Gremiensitzungen in der Form aufnehmen, dass man von einer normalen Sitzungswoche reden kann. Die Ausschüsse, die sind ganz stark abhängig davon, wie die Ministerien zugeschnitten sind. Und da wir noch keine Ministerien haben, haben wir noch keine neuen Ministeriumszuschnitte. Und somit auch noch keine Zuschnitte für die Ausschüsse."

    Und das heißt: Noch nicht einmal innerhalb der Fraktionen selbst werden die Aufgaben verteilt. Das scheint so sehr ein Naturgesetz, dass schon einmal die für Mitte November vorgesehene Sitzungswoche des Bundestags gestrichen wurde. Die Linke will das nicht so ohne weiteres akzeptieren. Sie hat Anträge vorbereitet – Abschaffung des Betreuungsgeldes, Mindestlohn beispielsweise - für die es an sich eine linke Mehrheit geben müsste. Mit allen Schwierigkeiten, die das für die SPD während dann laufender Koalitionsverhandlungen bedeutet.

    Damit diese Anträge behandelt werden können, braucht es Ausschüsse. Obwohl die morgige konstituierende Sitzung ja nach bisheriger Übung nicht streitig sein soll, will die Linke deshalb beantragen, mindestens die Ausschüsse einzurichten, die es eh geben muss. Weil sie im Grundgesetz stehen - wie der Immunitätsausschuss oder der Verteidigungsausschuss - oder weil es sie immer gibt, wie die Ausschüsse für Recht und Innen, sagt Petra Sitte.

    "Wir wollen vor allem eben, dass dieses Parlament sich nicht abhängig macht von der Einsetzung einer Regierung. Wir sind der Souverän."

    Doch Souverän hin oder her – das Gros der Abgeordneten wird bei der ersten Sitzung des Bundestags ein anderes Gesprächsthema haben. Unionspolitiker und Sozialdemokraten werden – auf den Gängen zumindest – vor allem über ihre künftige Zusammenarbeit plaudern.

    "Ich finde, bis Weihnachten muss dann auch mal gut sein."

    Pünktlich zum Advent soll den Deutschen ihre neue Bundesregierung beschert werden, dieses Ziel hat Sigmar Gabriel gestern beim kleinen Parteitag ausgegeben. An seinem Machtwillen lässt der SPD-Chef keinen Zweifel mehr. Vorbei die Zeit, in der er mit Rücksicht auf die Basis öffentlich Zurückhaltung üben musste - Gabriel will Vizekanzler werden und seine Partei in ein zweites Bündnis mit Angela Merkel führen:

    "Wenn man sich entscheidet, Koalitionsverhandlungen aufzunehmen, dann setzt man sich auch das Ziel, sie nach Möglichkeit zu einem erfolgreichen Ende zu bringen!"

    Eine wichtige Hürde auf dem Weg hat er genommen. Mit strategischer Fortune ist es ihm gelungen, die skeptischen Genossen erst einmal auf Kurs zu bringen. Der Forderungskatalog, mit dem die Partei ab Mittwoch in die Koalitionsverhandlungen gehen wird, enthält viele sozialdemokratische Akzente und nichts, was für eine wendige Kanzlerin nicht verhandelbar wäre: Mindestlohn, Mindestrente, gleiche Bezahlung von Frauen und Männern, eine Reform der Pflege, ja selbst die doppelte Staatsbürgerschaft – nach zähen Detailverhandlungen dürfte eine Einigung machbar sein. Die SPD-Forderungen nach Abschaffung des Betreuungsgeldes, vor allem aber der Ruf nach höheren Steuern, wurden von Sigmar Gabriel vorauseilend abgeräumt: Schon die Sondierungen haben ihm klar gemacht, dass sie ein Bündnis mit der Union unmöglich machen würden. Damit ist er soweit auf Angela Merkel und Horst Seehofer zugegangen, dass SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles schon wieder relativiert, um die eigenen Reihen zu beruhigen

    "Gerade bei Investitionen, egal ob in Infrastruktur oder Bildung, braucht man nachher auch eine verlässliche Finanzierung. Also Vagheiten nach dem Motto Allgemeiner Finanzierungsvorbehalt werden da nicht reichen, um am Ende unsere Mitglieder zu überzeugen!"

    Die Basis der Sozialdemokraten wird immer mit am Verhandlungstisch sitzen, warnt Unionsfraktionsvize Wolfgang Bosbach. Und in der Tat: Die ausstehende Befragung der SPD-Mitglieder könnte wie ein Damoklesschwert über den Koalitionsverhandlungen hängen. Würde der Vertrag am Ende abgelehnt, wären die Gespräche zur Bildung einer Großen Koalition umsonst gewesen. Unionsfraktionschef Volker Kauder will sich dennoch nicht unter Druck setzen lassen:

    "Wir lassen uns durch nichts, aber auch durch gar nichts erpressen. Weder durch eine drohende Mitgliederentscheidung noch durch öffentliche Diskussionen."

    Die Kanzlerin selbst hält sich bedeckt. Öffentlich hat sich Angela Merkel bisher nicht zu den bevorstehenden Verhandlungen positioniert. Lediglich in ihrer Videobotschaft hat sie Anfang des Monates angedeutet, wie wenig finanziellen Spielraum die CDU-Chefin für die nächste Legislaturperiode sieht:

    "Wir müssen herauskommen aus der jährlichen Neuverschuldung. Wir müssen sogar beginnen, unseren Schuldenberg zurückzuzahlen, und wir müssen bei Forschung und Bildung investieren."

    Hinzu kommen Kosten für drängende Infrastrukturvorhaben. Renten- und Pflegereform erfordern viel Geld. Die Energiewende, vor allem aber die zwingend notwendige Neuordnung des Länderfinanzausgleiches könnten Lücken in den Bundeshaushalt reißen. Wie sollen all diese Vorhaben ohne Steuererhöhungen bezahlt werden? Fragen sich Sozialdemokraten wie Thorsten Schäfer-Gümbel aus Hessen:

    "Steuerpolitik ist ja kein Selbstzweck. Wenn die Union der Auffassung ist, dass man das mit dem derzeitigen Finanzrahmen finanzieren kann, sind wir im Rahmen der Koalitionsverhandlungen gespannt darauf, wie das geht."

    Es geht nicht, da sind sich jene Sozialdemokraten sicher, die weiter nach höheren Steuern verlangen. Allenfalls beim Spitzensteuersatz wäre die Union bereit, sich zu bewegen. Und Horst Seehofer sieht die Zeit reif für seine umstrittene Pkw-Maut, um frisches Geld für Infrastrukturprojekte zu bekommen. Grundsätzlich gibt sich der CSU-Vorsitzende optimistisch:

    "Ich möchte, dass wir Erfolg haben. Wir brauchen eine stabile Regierung in einer Großen Koalition. Die werden wir bekommen!"

    Morgen treffen sich die Generalsekretäre von CSU, CDU und SPD, um Organisatorisches zu klären. Am Mittwoch um 12 Uhr kommen Union und SPD erstmals in großer – in sage und schreibe 75-köpfiger - Runde zusammen. Dann beginnt ein Verhandlungsmarathon, der sich bis in die Weihnachtszeit hinziehen dürfte.