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Neuer Roman von Mahi Binebine
Mit Humor über das Elend

Mimûn ist ein lukratives Baby. Der Junge ist so süß, dass seine Mutter ihn an Bettlerinnen vermietet, die mit ihm mehr Geld verdienen. Mahi Binebine erzählt in seinem Roman "Der Himmel gibt, der Himmel nimmt" von der Armut in Marrakesch mit viel Witz, doch ein paar stilistischen Schwächen.

Von Katharina Borchardt | 07.12.2016
    Zwei ältere Menschen in der Medina von Marrakesch.
    Binebines Roman spielt in der Medina von Marrakesch. (dpa / picture-alliance / Ahmed Hayman)
    Mimûn ist von Beruf Baby. Anfangs ist das kleine Kerlchen tatsächlich noch ein Säugling und wird von seiner Mutter an Bettlerinnen vermietet, die mit Mietkind im Arm in der Medina von Marrakesch ihre Tageseinkünfte aufbessern. Und sie haben Erfolg: Denn Mimûn ist niedlich und versteht sich darauf, genau im richtigen Moment zu lächeln und zahlungskräftigen Passanten – Erkennungsmerkmal: gepflegtes Schuhwerk – das Geld aus der Tasche zu ziehen. Und er kann noch mehr. Er trägt eine Kette aus bunten Schnullern, mit denen er Kunststücke vollführt:
    "Getragen von einem mir bereits gewogenen Publikum, vollführte ich mit Bravour eine ganz neue Jongliernummer mit meinen Schnullern: Ich spuckte einen aus und fing ihn im Flug wieder ein, dann ließ ich die Halskette um meinen Kopf kreisen, wie es Kinder mit einem Reifen um ihre Taille machen."
    Mit Witz wird vom Elend erzählt
    Man hört es sofort: Das neue Buch von Mahi Binebine ist komisch. Mit "Der Himmel gibt, der Himmel nimmt" hat er einen Schelmenroman geschrieben, der mit Witz vom Elend erzählt, ohne dadurch die alltägliche Not zu überzuckern. Hauptschelm ist Mimûn selbst, der die Geschichte seiner Kindheit und Jugend aus der Rückschau erzählt.
    Es ist eine Zeit, in der der Junge schwer misshandelt wird. Damit er klein und vermietbar bleibt, umwickelt die Mutter seine Arme und Beine mit straffen Bandagen. Denn für sie ist nur ein einkommensstarkes Baby ein gutes Baby. An allem will sie mitverdienen, auch wenn ein europäischer Fotograf Bilder vom Bettlerbaby schießt:
    "Meine jüngst erreichte Beliebtheit trieb die Preise hoch. Von nun an schloss mein Mietvertrag die audiovisuellen Rechte und ganz allgemein alles ein, was den direkten Rahmen der Bettelei überstieg, wie an dem Tag, als ein berühmter Fotograf Aufnahmen von mir in, gelinde gesagt, bizarren Positionen machte. [Er] verkeilte mich auf einem Haufen von Karton- und Plastikmüll, neben einem Gully vor einer zerbröckelnden Mauer, und beschoss mich mit seinem Blitzlicht."
    Ein Seitenhieb auf die europäische Elendsfotografie, die auf "blühender Phantasie" basiert, aber für die Abgelichteten eben auch einträglich ist. Damit Mimûn schnuckelig und fotogen bleibt, wirkt die Mutter – ein aufbrausendes Urviech von Frau – seiner körperlichen Entwicklung mit harter Hand entgegen. Weil sie ihn jahrelang in Bandagen wickelt, sitzt er noch als Jugendlicher in einem Kinderwagen.
    Als Jugendlicher im Kinderwagen
    Eine große Veränderung tritt ein, als er den alten Spanier Monsieur Salvador kennenlernt, bei dem sich Mimûns Bruder als Liebhaber verdingt. Monsieur Salvador verfügt über eine enorme Bibliothek und lehrt den klein gehaltenen Mimûn lesen und schreiben:
    "Trotz meiner kurzen Finger handhabte ich den Füller mit der Geschicklichkeit eines Zauberkünstlers. Ich bemühte mich, die Rundungen der Buchstaben zu malen, achtete auf die Ab- und Aufstriche, feilte an einem Wort hier, verbesserte ein anderes da, so geduldig und sorgfältig wie ein routinierter Kalligraph."
    Womit das Kapitel ‚Schreiben lernen‘ auch schon abgeschlossen wäre. Was wiederum das Hauptproblem dieses Romans anzeigt, das übrigens auch schon Mahi Binebines vorheriger Roman "Die Engel von Sidi Moumen" hatte, der ebenfalls aus der Rückschau erzählt wurde: Binebines Erzähler fassen zu viel zusammen.
    Zu viele Zusammenfassungen
    Im aktuellen Roman ist es der erwachsene Mimûn, der die Geschichte seiner Kindheit und Jugend erzählt. Es ist auch eine Geschichte von zumindest rudimentärer Bildung und deutlicher Emanzipation von den Hemmnissen der Herkunftsfamilie. Ein Entwicklungsroman also. Doch verleitet das Erzählen im Präteritum den Autor dazu, wichtige Entwicklungsschritte flink in wenigen Zeilen zusammenzuraffen. So bekommt man zwar einen chronologischen Überblick über Mimûns jugendliches Leben, kann sich aber kaum je in eine Szene wirklich einfühlen, also aus der Perspektive des verunstalteten Kindes unmittelbar erleben. Das mindert die Leseintensität.
    Darüber hinaus fasst Mimûn gelegentlich auch die Lebensläufe der Menschen zusammen, die ihm begegnen, was oft an ein Referat erinnert. Die Geschichte wird emotionaler, als er mit etwa sechzehn Jahren erstmals ein junges Mädchen kennenlernt. Und zwar bei einer Razzia unter den Armen der Stadt. Denn: Der König will Marrakesch besuchen. Die Stadt wird umfassend aufgehübscht.
    "Einziger Haken: wir, die Armen, deren Gegenwart die Landschaft verschandelte. Daran sollte es nicht scheitern! Der Gouverneur hatte die glänzende Idee, die Stadt von all ihren Hungerleidern zu reinigen. Das war keine Kleinigkeit. Zu diesem Zweck wurden die grünen Minnas aller Polizeireviere mobilisiert, und ohne Vorankündigung schritt man zu einer Großrazzia. Auch die Hilfskräfte wurden herangezogen und die Jagd auf die armen Schlucker gleichzeitig überall in der Stadt gestartet."
    Körper als Kapital
    "Der Himmel gibt, der Himmel nimmt" ist kein vordergründig politischer Roman. Trotzdem fragt er, wenngleich in schelmischem Ton, natürlich ständig: Warum gibt es diese Armut? Eine Armut, die nur mit vollem Körpereinsatz kurzzeitig gelindert werden kann. Mimûn verdient schließlich seinen Unterhalt als ewiges Baby, einer seiner Brüder prostituiert sich, ein anderer boxt auf dem Markt gegen Wetteinsatz, seine spätere Freundin gibt in Hotels das Schlangenmädchen.
    Ihre Körper sind ihr Kapital, doch die Nachfrage ist unbeständig. Und manchmal macht die Armut sie auch zu Monstern, wie etwa Mimûns Mutter, die keinen Wert außer Geld kennt und ihre Kinder nur dann einmal herzt, wenn sie gut verdient haben. Mimûn gelingt es, sich aus ihren Fängen zu befreien. Ein dauerhaft besseres Leben ist damit aber noch nicht garantiert.
    Mahi Binebine: "Der Himmel gibt, der Himmel nimmt"
    Aus dem Französischen von Hilde Fieguth. Lenos-Verlag, Basel 2016. 216 Seiten, 21,90 Euro.