Freitag, 19. April 2024

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Neuer Symposiumsband
Erste umfassende Darstellung des Phänomens Tenor

Der Tenor ist der höchste natürliche männliche Stimmtypus des menschlichen Gesangs und ist traditionell der Held auf der Opernbühne. Über Männlichkeit, Repertoire und gesangstechnische Besonderheit des Tenors informiert ein neuer Symposiumsband: "Der Tenor - Mythos - Geschichte - Gegenwart".

Von Dieter David Scholz | 12.06.2017
    Fritz Wunderlich singt den Titelpart in der Oper "Palestrina" an der Wiener Staatsoper im Jahr 1964.
    Fritz Wunderlich in einer Aufnahme von 1964. (picture-alliance / dpa / Votava)
    Musik: Monteverdi: L´Orpheo, I. "Rosa del ciel";Anthony Rolfe Johnson, The English Baroque Soloists, John Eliot Gardiner
    Es ist kein Zufall, dass sich die Ursprungsmythen der Musik auf einen männlichen Sänger, auf Orpheus konzentrieren. Die ersten vollständig erhaltenen Opern, "Euridice" von Jacopo Peri, "Euridice" von Giulio Caccini und "Orfeo" von Claudio Monteverdi rücken diesen Mythos ins Zentrum und vertrauen die Rolle des Orfeo einem Tenor an. Von Anfang an hat der Tenor eine Aura von Besonderheit, mit der Nähe zum Göttlichen, mit der Ausführung des "hohen C" in der Bruststimme und einem spezifischen, ambivalenten Bild von Männlichkeit. Seit Jahrhunderten kommt dem Tenor in der Oper daher herausragende Bedeutung zu. Er ist traditionell der Held der Opernbühne, der freilich im 18., 19. und 20. Jahrhundert unterschiedlich charakterisiert wurde. Der Tenor ist gleichsam ein mythisches bzw. mythenstiftendes Phänomen, wie die Herausgeber betonen. Sie betrachten es in ihrem außerordentlich gelehrten Buch aus interdisziplinären kulturwissenschaftlichen Perspektiven.
    Musik: Enrico Caruso: G. Verdi/La Traviata Brindisi- "Libiamo", Met Orchestra New York, Giulio Setti 1914
    Undatierte Aufnahme des italienischen Startenors Enrico Caruso. 
    Enrico Caruso war der erste Schallplattenstar und eine Ausnahmeerscheinung wie der Kastrat Farinelli oder Maria Callas (picture-alliance / dpa)
    Enrico Caruso ist wie Beniamino Gigli oder Luciano Pavarotti längst zum Mythos geworden. Dieser Mythos lebt auch heute, 80 Jahre nach seinem Tod, weiter. Caruso war der erste Schallplattenstar und eine Ausnahmeerscheinung wie der Kastrat Farinelli oder Maria Callas. Der Mythos Caruso ist bezeichnend für den des Tenors überhaupt, wie der Musikwissenschaftler Thomas Seedorf in seinem Kapitel über den Caruso-Mythos schreibt:
    "Es ist die Geschichte eines außergewöhnlich begabten Jungen aus einfachen Verhältnissen, der zum größten Sänger seiner Zeit aufstieg, indem er sein Leben der Kunst opferte."
    Tenorverherrlichung und Männlichkeit
    Thomas Seedorf beschreibt anhand der Caruso-Romane und -Filme, wie Tenorverherrlichung, -verklärung und -mythenbildung funktioniert. Was es mit der "Männlichkeit" des Tenors auf sich hat, untersucht die Genderforscherin Rebecca Grotjahn in einem interessanten Beitrag, der die Ambivalenz von Bewunderung, Spott und Ironie, die dem "Ritter vom hohen C" stets anhaftet, darstellt. Keinem anderen Stimmfach wird solche besondere, zwiespältige Aufmerksamkeit zuteil. Das liege einerseits, so liest man, an der kapriziösen Primadonnenhaftigkeit und Eitelkeit vieler Tenöre, andererseits an der dem "natürlichen" Geschlecht scheinbar widersprechenden Stimmhöhe. Lang und breit wird die Differenz von sexueller Identität und Stimme erörtert, werden aber auch Begriffsverwirrungen um Falsett und Kopfstimme geklärt und Stimmgeschlechter definiert. Das System der tenoralen Arten von "Männlichkeit", die sich stets gegen Weiblichkeit wie gegen Homosexualität abzugrenzen habe, wie Rebecca Grotjahn schreibt, sei einerseits durch die Anatomie des Körpers, andererseits durch Rollen- und Funktionszuordnungen in der Operngeschichte bedingt.
    Musik: R. Wagner Walküre "Winterstürme", Franz Völker
    Zwischen "Drachentöter und Frauenversteher", siedelt der Biologe und Gesangspädagoge Christian Lehmann die Rolle des Tenors an. Lehmann entwirft in seiner "humanethologischen Annäherung" ein Panorama der Tenorstimme als biologisches Signal. Es geht um das grundsätzliche Problem: Androgynität versus Virilität.
    "Das androgyne Stimmverhalten, im Kulturenvergleich bei der Bewältigung hoher Töne wahrscheinlich ein ebenso verbreitetes Erfolgsmodell wie die athletische Risikostimme, scheint zu signalisieren: Der Sänger identifiziert sich mit einem weiblich anmutenden Gefühlsausdruck und zeigt in einer ritualisierten Weise gleichsam durch stimmliche Travestie Einfühlungsvermögen in das andere Geschlecht."
    Voraussetzungen und Funktionsweisen werden erklärt
    Kein Wunder, dass mit den seltenen, hellen und hohen Männerstimmen seit je Helden und Engel, Prinzen und zärtliche Liebhaber in der Oper wie im Oratorium besetzt wurden, aber auch Trottel und Gottesnarren. Hingegen Schufte, Bösewichter, Propheten, weise Könige, Priester und große Frauenhelden wurden in der Oper meist Baritonen und Bässen anvertraut, die als virile, männliche Stimmen per se gelten. Der Tenor ist nun mal eine besondere, besonders seltene und besonders anfällige Stimme. Ihre stimmphysiologischen Voraussetzungen und Funktionsweisen erklärt der Facharzt für Hals-, Nasen- Ohrenkunde Matthias Echternach.
    Musik: Mozart: Don Giovanni "O mio tesoro", Fritz Wunderlich, Berliner Symphoniker, Horst Stein
    Es geht in den 13 Kapiteln dieses Tenor-Buches nicht nur um Physiologie, Typologie und erotische Identität des Tenors, sondern auch um die wechselvolle Begriffsgeschichte des Wortes "Tenor" in Abgrenzung zum Contratenor, es geht aber auch um Tenorpartien in der Opera seria wie der Opera buffa, um das Ende der Kastraten und den Aufstieg des Operntenors in Neapel, um leichte und schwere, lyrische wie dramatische, italienische wie französische Tenöre und um den speziellen Typ des Wagnertenors. Der Band vereinigt die Beiträge von 13 Autoren eines Symposiums, das 2011 an der Katholischen Akademie Schwarte stattfand und von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert wurde. Es ist die erste umfassende Darstellung des Gesamtphänomens "Tenor". Dank weiterführender Anmerkungen, aufschlussreicher Abbildungen, vieler Notenbeispiele und einem praktischen Register ist das Buch so nützlich wie informativ.
    Musik: Mozart: Don Giovanni "O mio tesoro", Fritz Wunderlich, Berliner Symphoniker, Horst Stein
    "Der Tenor: Mythos – Geschichte – Gegenwart"
    herausgegeben von Corinna Herr, Arnold Jacobshagen, Thomas Seedorf, Taschenbuch 2017.