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Neuerscheinungen zum Thema Freundschaft

"Der beste Weg, einen Freund zu haben", erkannte einst der Philosoph Ralph Waldo Emerson "ist der, selbst einer zu sein." Kleine Kinder haben damit meist keine großen Probleme, und die "Sandkastenfreundschaft" gehört zu den Urmythen unseres sozialen Lebens, beruht sie doch auf eher geringen Anforderungen. Je älter man wird, desto öfter treten allerdings Probleme auf. Freunde, auf die man sich verlassen kann, fallen nicht vom Himmel, ja zuweilen ist der spätere Freund hinter dem scheinbaren Feind versteckt. Auch Krisen lassen sich - ganz gleich, wie alt man ist - nie zur Gänze umgehen, etwa weil der spätere Freund zunächst als drittes Rad am Wagen fungiert und schwere Eifersucht beim zweiten auslöst. Oder weil der gute Freund auf die schiefe Bahn gerät und einen selbst in seine Abgründe mitzureißen droht. Selbstredend gilt das auch für Freundinnen, denn in neuen Kinder- und Jugendbüchern zum Thema "Freundschaft und Krise" tauchen alle Geschlechterkonstellationen auf: die Jungensfreundschaft, die Mädchenfreundschaft und die zwischen den Geschlechtern.

Von Florian Felix Weyh | 31.03.2007
    Als sie am See auf der Wiese lagen, sagte Lena: "Du bist dauernd mit Sascha zusammen, aber mit mir redest du nicht gern über Jungs, komisch."
    "Sascha ist was anderes" erwiderte Elli. "Ich will ihn ja nicht küssen. Ich muss ihn nicht anstarren, weil ich mich nicht traue mit ihm zu reden; ich sehe ihn fast jeden Tag. Ich bin ja nicht in ihn verliebt."
    "Und das soll ich glauben? Glaubst du ja selber nicht"
    "Doch. Sascha ist eben mein Freund."
    "Du gehst mit ihm."
    "Nein, es ist so, als wären wir aus einer Familie. Ich bin aber echt gern mit ihm zusammen. So irgendwie ... Ohne Sascha wäre alles langweilig." [Aus: "Das verschluckte Lachen", S. 18-19]


    " Mir geht das auf die Nerven, dass irgendwie jede Freundschaft oder jede Beziehung zwischen einem Jungen und einem Mädchen immer in irgendwelchen verkorksten Liebesgeschichten enden muss. Es gibt einfach Jungs, die spielen gern mit Mädchen und umgekehrt. Es ist nicht die Mehrheit, aber es ist auch nicht die Regel, dass jetzt Jungs nur mit Jungs und Mädchen nur mit Mädchen zusammen sein müssen."

    ... sagt die Berliner Autorin Anja Tuckermann, die mit ihrem Buch "Das verschluckte Lachen" die Freundschaft zwischen dem Mädchen Elly und dem Jungen Sascha schildert. Ellys Mutter ist gestorben, ihr Vater muss als Fernfahrer lange Touren machen, so bleibt die Tochter oft alleine.

    " Sie muss ihr Leben meistern, sie ist ja auch erst 10 Jahre alt. Sie darf in der Schule nicht erzählen, dass ihr Vater nicht da ist, damit sie nicht in ein Heim kommt, oder nicht das Jugendamt dorthin kommt. Sie möchte das auch schaffen. Sie möchte es ihrem Vater zeigen, und sie sieht auch die Vorteile von diesem Leben alleine, weil sie dann eben vieles kann, was andere Kinder nicht können und machen darf, was andere nicht dürfen. Trotzdem braucht sie Sascha gegen die Einsamkeit auch."
    Doch mit Sascha hat es eine besondere Bewandtnis. Er leidet unter der Aufmerksamkeitsstörung ADHS, die ihn vielerlei Hinsicht behindert.

    " Sascha kann sich nicht konzentrieren, er geht in die 4. Klasse und kann noch nicht lesen und schreiben, er ist eher hippelig und hat immer Ideen. Mit seiner Hippeligkeit hat er Schwierigkeiten mit den Erwachsenen, aber Elly findet ihn toll. Er erzählt ihr die Geschichten für die Hörspiele, die machen die zusammen, basteln die zusammen, und fahren zusammen Fahrrad und unternehmen einfach viel. Und leben so ihre ganze Phantasie aus."

    "Was willst du mal später werden?", fragte Sascha mit vollem Mund. Elli überlegte und zuckte dann die Schultern. "Weiß noch nicht. Ich will nichts müssen." Sascha lachte. "Genau", rief er. "Das ist ein toller Beruf. Du wirst Mussnichts. Und du machst eine Umschulung zur Darfalles." "Nee, ich mache gleich zwei Ausbildungen: zur Mussnichts und zur Darfalles. Aber was ich toll fand, wäre, wenn andere Kinder vor dem Einschlafen Kassetten mit meinen Geschichten hören würden." [Aus: "Das verschluckte Lachen", S. 43]

    Elly hat eine besondere Leidenschaft. Sie bastelt mit Kassettenrekordern Hörspiele zusammen, zu denen Sascha die Ideen liefert. Vor allem abends, wenn sie alleine ins Bett gehen muss, wird so die Stille ihrer Existenz von tröstendem Stimmenklang durchbrochen; im Abhören der eigenen Aufnahmen liegt der Lohn aller Mühen. Diese Passagen in Anja Tuckermanns Kinderroman wirken ein wenig wie aus der Zeit gefallen. Natürlich besitzt Ellys Vater ein Handy, mit dem er Kontakt zur Tochter hält - doch Hörspiele mit Kassettenrekorder aufzunehmen und abzumischen, statt das am Computer zu tun, ist das nicht eine Reminiszenz an die 70er-Jahre?

    " Die Technik ist ja immer noch in Kinderzimmern. (...) Ich hab das auch überlegt und versucht ... kann so ein Mädchen mit Computern umgehen, kann sie die ganze Technik, die Aufnahmen mit Computern machen, und wie ist so ein Kinderzimmer ausgestattet? Und dann hab ich gedacht: Das ist alles Quatsch! Das ist alles viel zu kompliziert, und mir ging es ja auch darum, die Kinder ihre Phantasie ausleben zu lassen und erfinderisch zu sein. (...) Und wenn man dann halt mit verschiedenen Rekordern und den allereinfachsten Mitteln da wirklich komplexe Stücke, Geschichten mit Geräuschen aufnimmt, das fand ich viel spannender."

    Die Geschichte von Elly und Sascha wäre nicht dramatisch, sondern nur poetisch und genau geschildert, bräche die fragile Sicherheit der Verhältnisse nicht plötzlich zusammen. Sascha kommt auf eine Sonderschule, dort erkennt man hinter den Verhaltensproblemen seine Krankheit ADHS und verordnet ihm ein Medikament.

    " Das hilft ihm, sich zu konzentrieren, sich auf ein Thema zu fokussieren, nicht immer abgelenkt zu sein, und er wird besser in der Schule. Er bekommt Anerkennung von den Erwachsenen, das findet er auch gut, dass sei Zeugnis besser wird, aber mit Elly kann er nichts mehr machen. Ihm fällt nichts mehr ein, er ist müde, er hat viele Termine gleichzeitig, Therapie und Nachhilfe. Und für Elly, die sich so durchschleppt durchs Leben, die Sascha braucht, weil er ihre Familie ist, ist das eine ganz schlechte Veränderung."

    Es kommt zum Bruch der beiden Freunde, Elly vereinsamt, weil Sascha erkaltet - die Rettung des einen geht auf Kosten der anderen. Anja Tuckermann entzieht sich dieser verstörenden Dialektik, indem sie Sascha einen Entschluss fassen lässt, dessen Konsequenz die Versöhnung ermöglicht. Sie erfolgt über das Medium, mit dem die beiden so viel Zeit verbracht und soviel Spaß erlebt haben. Eines Abends findet Elly einen Umschlag vor ihrer Tür - mit etwas darin:

    Es war eine Kassette. Sofort stellte sie den Herd ab, lief in ihr Zimmer und schob die Kassette in den Kassettenrekorder, drückte auf Start. Sie war aufgeregt, sie stand vor dem Regal. Erst knisterte es, dann hörte sie den Atem, ein Räuspern, dann die Musik, die Elli aus den Geräuschen gemischt hatte, und dann sehr laut Saschas Stimme. Er musste ganz nah ins Mikrofon gesprochen haben:
    "Hallo! Hallo Hallo?
    Haaallooo!
    Hallo Elli
    Elli hallo
    Elli Ellli
    hallo hallo
    hier Sascha
    Sascha hier
    dein Freund
    hu hu Elli
    Ferien
    ich mit dir?
    Hallo Elli
    Sascha das Fass
    hallo Glas
    sagt das Fass
    sagt Elli
    nur Fass ohne Glas
    is nix
    ohne Elli is nix
    macht kein' Spaß"
    Elli hatte sich auf ihr Bett gelegt, hörte zu und lachte, als Sascha allmählich anfing, eine Melodie zu finden und zu singen:
    "Hallo Elli hallo
    klingel bei mir
    Sascha ist hier
    Sascha ohne Tabletten
    nimmt er nich mehr
    Sascha wartet
    auf dich
    ja dich ja dich
    nur du nur du n
    ur duhuhu
    Elli hu hu
    Ferien Elli
    hallo hallo
    Ferien ohne dich
    sind nix
    nur Fass ohne Glas
    is nix
    klingel bei mir
    ich warte hier
    hallo hallo
    klingel bei mir
    ich warte hier" [Aus: "Das verschluckte Lachen", S. 43]


    " Es ist seine Entscheidung, dieses Medikament nicht mehr zu nehmen, es ist nicht die Freundin, die ihn drängt. Und die Entscheidung hat er bewusst gefällt, er wirft das Medikament weg, er schluckt es nicht mehr, gleichzeitig hat er aber auch gelernt, wie es ist oder erfahren, wie es ist, auch mal erfolgreich zu sein, und kann vielleicht an dieser Erfahrung anknüpfen."

    "Das verschluckte Lachen" ist in seiner Figurenzeichnung einer sehr ernsthaften Zehnjährigen und ihres eigenwilligen gleichaltrigen Freundes eine an vielen Stellen sehr anrührende Kinderlektüre. Im Gegensatz zu Kinderbüchern aus dem angloamerikanischen Raum, deren Fokus mehr auf Handlung als auf Sprache liegt, zeigt sich Anja Tuckermanns "Verschlucktes Lachen" als detailversessenes und beschreibungsakribisches Buch, mit gleichwohl erkennbarem Spaß an kindlicher Sprachverdrehung und Sprachschöpfung. In Atmosphäre und Stil ähnelt dem die Mädchenfreundschaft in der Erzählung "Big" der niederländischen Autorin Mireille Geus. So wie Sascha ist auch Dizzie anders, wiewohl wir nicht erfahren, worunter sie leidet, nur dass sie eine Sonderschule besucht. Entsprechend schwer findet sie auf dem Dorf Freunde und freut sich, als ein zugezogenes Mädchen, das sich selbst großsprecherisch "Big" nennt, ihr die Blutsbrüderschaft anträgt. Stolz nimmt sie die neue Freundin mit nach Hause:

    Vor meiner Tür hält Big mich zurück. "Mag's deine Mutter lieber brav oder frech?"
    "Wie meinst du das?", frage ich.
    "Ist es deiner Mutter lieber, wenn deine Freundin artig ist, oder gerade nicht?", wiederholt sie ungeduldig.
    "Oh", sage ich und überlege.
    Was meint sie denn mit dieser Frage? Will sie wissen, wie sie sich verhalten soll? Kann sie sich das denn aussuchen?
    "Benimm dich einfach normal", sage ich. "Das mag meine Mutter."
    "Also Natur", sagt Big.
    Ich nicke nur. Ich weiß, dass ich oft etwas nicht verstehe. [Aus: "Big" S. 30-31]


    Viel schneller als bei Anja Tuckermann eskaliert das Geschehen. Kaum hat Big die langsame und begriffsstutzige Dizzie für sich eingenommen, schlägt sie auch schon über die Stränge. Sie schließt jugendliche Spötter ihrer Freundin über Nacht in einem Gewölbe ein und attackiert einen Lehrer in der Schule mit dem Messer. Die Behauptung, sie hätte den Wohnort so oft gewechselt, weil ihr Vater geheime Regierungsaufträge erledige, erweist sich als Lüge; in Wahrheit flog sie überall von der Schule. Gegen den Kinderbuch-Mainstream erlaubt sich Mireille Geus die Freiheit einer negativen Titelheldin, deren gewalttätiges Störpotential weder durch psychologische Erklärungen noch durch Besserungsverheißungen gemildert wird. Als beinahe apodiktische Verkörperung des Bösen, wie man es im Jugendbuch sonst nur aus dem phantastischen Genre kennt, bricht die Figur die Klischees des realistischen Schreibens auf. Dies lässt sich jedoch leicht aus der Erzählperspektive begreifen: Rückblickend aus Dizzies Sicht geschildert, die zwischen Furcht- und Verlockungsgefühlen hin- und herschwankt, kann es in der Geschichte nur darum gehen, wie sich Dizzie vor Big schützt, wenn diese aus dem Jugendarrest zurückkehrt. Entstanden ist eine schmale, dunkle Parabel über die Verwandlung von Freundschaft in Unterordnung und Gefolgschaft, dargestellt aus Sicht des Opfers und damit notgedrungen einseitig. Das nächste Buch bearbeitet dieses Themenfeld ebenfalls. Allerdings auf andere Weise:

    "Ich mag es, wenn alles überschaubar ist. Freunde, Menschen, mit denen man auf engem Raum leben kann. Auf die man sich verlassen kann. Die einen kennen, die einen mögen, echte Freunde. Ich habe mal ein Buch gelesen, über so Leute auf einer kleinen Insel in Schweden. Die wohnten da, jeder kannte jeden, was der so tat, dachte, auch die kleinen Geheimnisse, aber das war nicht wichtig. Die wussten alles voneinander. Da sie zusammenlebten, nicht von der Insel wegkamen, war das Nebensache. Das war echte Nähe. Wirkliche Freunde." [Aus: "Unter Freunden" S. 71]

    "Unter Freunden" heißt der voluminöse Psychothriller des deutschen Autors Thomas Fuchs. Leo und Sara kommen beide zum selben Zeitpunkt ins Internat Hausenthal, eine Schule für die Gestrauchelten des Bildungssystems, kein Ort des internationalen Jetset-Nachwuchses. Schon rasch erkennen die Neulinge, dass sich das Hausenthaler Leben vornehmlich um eine Person dreht: Greg, den gut aussehenden Zehntklässler, der dem Schülerparlament vorsitzt, der Leiter der Computer-AG, Initiator des Survivaltrainings und Chefredakteur der Schülerzeitung ist, obendrein natürlich Klassenprimus. Dieser Topdog ersten Ranges tritt dazuhin verbindlich, smart und charmant auf. Feinde scheint er in Hausenthal keine zu haben, im Gegenteil, jeder schätzt sich glücklich, wenn er zu einer seiner begehrten Samstagabendevents eingeladen wird:

    Leo schwärmte davon, wie ehrlich alle in der Gruppe um Greg seien. Beim Käsefondue etwa, so offen und direkt dort miteinander umgegangen worden war, das war für Leo absolut Anti-Hausenthal. Kein Pragmatismus, keine Fassade, und ich konnte ihm nur Recht geben. [Aus: "Unter Freunden" S. 49]

    ... erzählt Sara, die das Geschehen als Zeugin beobachtet, denn Greg integriert sie nicht in seinen Kreis. Er begehrt ausschließlich den begabten Gitarrespieler Leo als Freund und Jünger, und bei seinem sozialen Rang fällt ihm leicht, den Wunsch in die Tat umzusetzen. Nicht, dass Greg Sara schlecht behandeln würde, er manövriert sie einfach aus, indem er Leo dank seines Netzwerks zum Schulpopstar macht, der sich von früheren Freunden isoliert. Spätestens als Leo auch noch Gregs Zimmergenosse wird, bekommt Sara ihn überhaupt nicht mehr zu Gesicht. Doch es zeigt sich, dass der mit dem Statusgewinn keineswegs das große Los gezogen hat:

    Ständig war Greg in seiner Nähe. Ausgenommen die paar Stunden Schule und die halbe Stunde täglich, in der Leo Sven Gitarrenunterricht gab. Aber sogar dort tauchte Greg neuerdings immer mal wieder, ohne zu fragen, auf. Ansonsten war Greg immer da, während des Silentiums, bei den AGs, in der freien Zeit vor dem Lichtlöschen, nachts, beim Aufstehen. Leo fühlte sich wie sein Eigentum, wie ein unmündiges Kind. Greg machte ständig Vorschläge, was Leo tun solle und was nicht. ( ... ) Mit Leo zusammen begann Greg schon jetzt Leos Mitschüler einzuteilen: interessant, langweilig, nützlich, gefährlich. In die letzte Kategorie schaffte es niemand. [Aus: "Unter Freunden" S. 208]

    Greg ist ein sozialer Vampir, einer jener Menschen, die Freundschaft unter dem Machtaspekt genießen und Beziehungen nur manipulativ gestalten können. Allerdings tritt er weder gewalttätig noch bösartig auf, sondern bleibt selbstgenügsam, solange er die begehrte Macht in den Händen hält. Dazu arbeitet er mit Verführung und Druck, etwa indem er großzügig Geld verleiht und die Schuldner in Abhängigkeit zu ihm hält. Ein ausgeklügeltes Spitzelsystem verschafft ihm peinliche Informationen über jeden innerhalb der Mauern des Internats, Schüler wie Lehrer. Diese bilden das Fundament für subtile Erpressungen. Da die Prinzipien des Rektors Liebig nicht vorsehen, ins Sozialleben einzugreifen, solange die Schüler im Unterricht funktionieren, ja er kleinere Vergehen sogar von ihnen selbst aburteilen lässt, fühlt sich Greg sehr sicher:

    "Selbst der Liebig ist mir nicht gewachsen", berauschte sich Greg weiter. "Sogar der Arsch hat kapiert, das hier ist meine Schule. Er und alle anderen haben noch Glück."
    Leo wusste genau, was er in solchen Momenten fragen musste: "Wieso Glück?"
    "Weil ich nichts Böses plane. Das ist das Glück der vielen Arschlöcher hier. Ich bin jemand, der es gut mit seinen Mitmenschen meint. Ich versuche den Leuten zu helfen, ich führe sie zu ihrem angestammten Platz im Leben. Da fällt mir ein, wir müssen unbedingt dafür sorgen, dass du endlich eine Frau bekommst. Ist doch kein Zustand! Du bist sechzehn!" [Aus: "Unter Freunden" S. 135]


    Hier läuft das Fass für Leo über, denn der sensible 16-Jährige will sich nicht auch noch befehlen lassen, wann er mit wem zu schlafen habe. Jugendliche in ihrer gruppenempfindlichen Phase, in der Gleichaltrige Takt und Richtung der eigenen Entwicklung vorgeben, dürfte "Unter Freunden" schon deswegen erreichen, weil der Roman extrem spannend geschrieben ist. In der Erwartung, dass sich Leo mit Saras Hilfe aus den Fängen Gregs befreit, mag man die Lektüre kaum unterbrechen, und Thomas Fuchs zeichnet bei aller Suspense-Dramaturgie glaubwürdige Psychogramme seiner Figuren. Natürlich profitiert das Buch vom eingeführten Genre der Internatsromane, deren Atmosphäre sich automatisch nach wenigen Sätzen einstellt, aber wie Fuchs dem traditionellen Genre neue Façetten abgewinnt, ist unbedingt lesenswert. So wie das nächste Buch auch, wenngleich es mit Worten haushälterisch umgeht. Im Grunde sind nur sechs davon bedeutsam:

    Ich glaube, jetzt verschlinge ich dich.

    In Joel Stewarts Bilderbuch "Dexter Bexley und der große blaue Grobian" geht es ums Gegenteil von Freundschaft, nämlich um gierige Fressfeindschaft. Der große blaue Grobian, ein langklauiges Ungeheuer, will den kleinen Jungen Dexter verspeisen, doch der ersinnt so viele Ablenkungsmanöver, dass am Ende auch dem Untier klar wird: Ein lebender Freund bringt mehr Genuß als ein verspeister Appetithappen. Hinreißender britischer Humor, dessen Lakonie den Eltern beim Vorlesen Spaß bereitet, während die Kleinen sich an den Bildern erfreuen. Spaß für die gesamte Familienleserschaft hält auch Moni Nilssons "Salmiak und Spocke" bereit - eine sehr eigenwillige Hommage an zwei Astrid-Lindgren-Figuren. Der sechsjährige Junge Salmiak hat Ähnlichkeit mit dem frechen Lausbuben Michel aus Lönneberga, und sein Freund Spocke, ein kleiner, garstiger Kobold, erinnert an Karlsson vom Dach. Doch das Erzähluniversum der Moni Nilsson ist im Vergleich zu Astrid Lindgren mindestens drei Schraubenwindungen überdreht, was sich schon an den Namen erkennen lässt:

    Salmiak war überzeugt davon, dass alles Schlimme nur von seinem blöden Namen kam. Alle anderen in Norrnäs hatten Doppelnamen. Alle außer ihm und Mama Mia. Mama hatte bestimmt, dass er Salmiak heißen sollte. Weil seine Augen so schwarz wie Lakritz waren, als er noch klein war. Aber das war jetzt nicht mehr so. Hätte Salmiak entscheiden dürfen, dann hätte er Jesus geheißen, Phantomas oder vielleicht auch Klas-Bertil. Klas-Bertil, der Name war ganz in Ordnung, Jesus, den mochten alle, und Phantomas hatte nie Angst. [Aus: "Salmiak und Spocke", S.8]

    "Mamamia" hieß ein Hit von Abba aus den 70ern, und wer eine Mutter dieses Namens hat, muss auf einiges gefaßt sein. Zum Beispiel, dass sie im lichtarmen Winter Nordschwedens durchdreht und in ihre Heimat Stockholm zurückkehrt. Da der Vater den ganzen Tag am Computer sitzt, um eine Spiel zu programmieren, muss sich Salmiak weitgehend selbst beschäftigen. Zum Glück taucht Kobold Spocke auf, der weltklug umhersalbadert und stets zu derben Streichen aufgelegt ist. Gar nicht gut findet er allerdings, dass Salmiak im Schulbus einen anderen Außenseiter kennenlernt, der ihm auf Anhieb gefällt, nicht zuletzt wegen sein tollen Doppelnamens Clint-Henrik. Weil er stottert, hat er im Grunde sogar drei, und bei einem gemeinsamen Verkleidungsnachmittag als König und Prinzessin kommt es zum Schwur:

    Clint-Clint-Henrik sah Salmiak ernst an. "Dich mag ich am allerliebsten auf der ganzen Welt", sagte er. "Lieber als mich selbst." Das hatte noch nie jemand zu Salmiak gesagt. Nicht einmal Mama, Papa oder Oma.
    "Ich mag dich genauso gern", erwiderte Salmiak.
    "Nur schade, dass du nicht wirklich eine Prinzessin bist", sagte Clint-Clint-Henrik. "Sonst könnten wir heiraten, wenn wir groß sind."
    "Das können wir doch trotzdem", sagte Salmiak.
    "Aber dann können wir keine Kinder kriegen", sagte Clint-Clint-Henrik.
    "Das macht doch nichts", entgegnete Salmiak. "Kinder sind sowieso nur anstrengend."
    "Ja, weil sie immer in die Hose pinkeln", kicherte Clint-Clint-Henrik.
    "Und dann wird alles nass", kicherte Salmiak.
    Sie bastelten sich silberne Eheringe aus Aluminiumfolie.
    "In guten und in schlechten Zeiten", sagte Salmiak und schob Clint-Clint-Henrik den Ring über den Finger. Denn das tat man, wenn man heiratete.
    "In guten und in schlechten Zeiten", sagte Clint-Clint-Henrik und schob Salmiak den Ring über den Finger. [Aus: "Salmiak und Spocke", S.8]


    Spocke wäre kein echter Erdgeist, säße nicht sein Herz am rechten Fleck. So gibt er dieser Freundschaft schließlich seinen Segen, und Autorin Moni Nilsson schafft das Kunststück, eine kindliche Phantasiewelt auf vergnügliche Weise mit einem eher tristen schwedischen Sozialkolorit zu vermählen. Auch im letzten Buch unserer Sendung leben die beiden Protagonisten nicht gerade in den allerbesten Verhältnissen.

    Jaryd Kiffing, fünfzehn, hässlicher als ein Pott Arschlöcher, feuerrote Haare, O-Beine, in allen Schulfächern saumies, ein Nichtsnutz, ein Schlägertyp, Störenfried, kindlich, manchmal auch gewalttätig, oft brutal, der Klassenclown, stolz auf sein dümmliches Image, das er kultiviert, teilzeitkriminell. Ein Freund von mir. [Aus: "Die Sache mit Kiffo und mir", S. 23]

    So schildert die fünfzehnjährige Calma jenen Jungen, zu dem sie sich wegen seines aufsässigen Außenseitertums hingezogen fühlt. "Die Sache mit Kiffo und mir" des australischen Autors Barry Jonsberg schildert die fatale Verlockung einer Freundschaft, die hauptsächlich durch gemeinsame Feinde definiert wird. Die intelligente und hochbegabte Calma hat mit dem eindimensionalen, eher dumpfen Kiffo nicht viel mehr gemeinsam als die abgrundtiefe Abneigung gegenüber Miss Payne, der neuen Englischlehrerin. Als diese den Dauerprovokateur Kiffo mit gebührlicher Härte behandelt, lässt sich Calma von ihm in seine Verschwörungswelt hineinziehen. Eine Drogendealerin sei Miss Payne in Wahrheit, und die beiden Teenager tun alles, um ihre Theorie zu belegen, Einbruch inklusive. Kiffo, schon von seinen Familienverhältnissen her ein geübter Kleinkrimineller, zieht Calma immer tiefer in den Sumpf hinab, und aufblitzende Momente der Selbsterkenntnis helfen der Fünfzehnjährigen auch nicht weiter:

    Über alldem schwebte die Erkenntnis, dass ich keine echten Freunde hatte, mal abgesehen von Kiffo. Nicht falsch verstehen - ich schäme mich nicht für ihn oder so. Weit gefehlt. Aber es gibt, wie ich schon sagte, Sachen, über die man mit Kiffo nicht sprechen kann. Sachen, die ich nicht berühren darf. Nicht wirklich. Und manchmal, nur manchmal, braucht man eine Gesprächsebene, in der alle Grenzen offen sind und es keine Kartenlegende gibt, wo steht: "Hier hausen Drachen!" Sehen wir den Tatsachen ins Gesicht: Mein Leben war das reinste Chaos. [Aus: "Die Sache mit Kiffo und mir", S. 206]

    Chaos mit Folgen. Nach einem Unfall mit gestohlenem Motorrad stirbt Kiffo, und Calma bleibt der große Auftritt bei der Schultrauerfeier, wo sie den geheuchelten Reden der Erwachsenen ein zorniges "Er war ganz anders!" entgegenschreit. Dass "Die Sache mit Kiffo und mir" zwiespältig zu lesen ist, hängt mit einer handwerklichen und einer inhaltlichen Schwäche zusammen. Handwerklich findet das Buch zu keinem Ende, sondern löst die Verschwörungstheorie der Jugendlichen auf - Miss Payne ist ehrenamtliche Drogenberaterin, keine Dealerin -, um dann gleich wieder neuen Verdachtsmomente zu schüren, noch einen und noch einen Schluss anzufügen. Die inhaltliche Schwäche bezieht sich auf die durchaus löbliche Absicht des Autors, ganz in die Wahrnehmungswelt seiner jugendlichen Helden einzutauchen. Doch vermag er dabei nicht plausibel zu machen, warum Calma in eine geradezu todessüchtige Umarmung dieses in jeder Hinsicht unattraktiven Freundes gerät; eingestreute Rückblenden auf frühere Kontakte der beiden bleiben vage. Vom romantischen Bild der Freundschaft, das scheinen die Kinderbücher im Frühjahr 2007 zu sagen, müssen wir uns verabschieden. Das ist zwar schmerzlich, aber vermutlich die Wahrheit, die auf dem Schulhof und in der Clique regiert.

    Besprochene Titel:
    Thomas Fuchs: "Unter Freunden"
    Thienemann Verlag 2007
    270 Seiten, 13,90 Euro

    Mireille Geus: "Big"
    Aus dem Niederländischen von Monica Barendrecht und Thomas Charpey
    Verlag Urachhaus 2007
    108 Seiten, 11,90 Euro

    Barry Jonsberg: "Die Sache mit Kiffo und mir"
    Aus dem Englischen von Janka Panskus
    Oetinger 2007
    284 Seiten, 12,90 Euro

    Moni Nilsson: "Salmiak und Spocke"
    Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt
    Mit Bildern von Sonja Bougaeva
    Gerstenberg Verlag, 2007
    176 Seiten, 12,90 Euro

    Joel Steward: "Dexter Bexley und der große blaue Grobian"
    Aus dem Englischen von Leena Flegler
    Gerstenberg Verlag, 2007
    o.S. 12,90 Euro

    Anja Tuckermann: "Das verschluckte Lachen"
    Sauerländer Verlag 2007
    112 Seiten, 10,90 Euro