Der Titel klingt ein wenig ungelenk, ein wenig nach Apothekerbroschüre: "Einen Körper haben", so heißt der neue Roman der Französin Brigitte Giraud. Dass in seinem Titel eine gewisse Provokanz steckt, enthüllt sich erst bei der Lektüre. "Einen Körper haben" ist insofern wörtlich zu verstehen, als die Französin Brigitte Giraud eine weibliche Biografie verfasst, die sich konsequent auf der Folie leiblicher Erfahrungen, Erinnerungen und Empfindungen entwickelt. Der Raum der Erzählung ist das Körpergedächtnis. Die Ich-Erzählerin, offensichtlich identisch mit der Autorin, bleibt namenlos, ihre Lebensdaten und Lebensumstände werden nur dann kenntlich, wenn sie den Kosmos ihrer subjektiven Sinnlichkeit berühren.
Das Mädchen phantasiert sich in den Körper eines Jungen
Dass der Vater von Beruf Polizist ist, ergibt sich aus dem faszinierten Blick auf seinen Gang, der sich sofort verändert, wenn er zu Hause das Hüftpolster mit der Dienstpistole ablegt, beziehungsweise morgens nach dem Frühstück wieder anlegt. Dass die Mutter Schneiderin ist, lässt sich daraus schließen, dass ihre Hände, ja ihr ganzer Körper unablässig in Kontakt mit Stoffen, Stoffbahnen und Textilien zu sein scheinen, und dass sie versucht, dem Mädchen hübsche selbst genähte Kleider schmackhaft zu machen. Aber das Mädchen phantasiert sich in einen Jungenkörper. Ein Junge, merkt sie schon im Kindergarten, hat Freiheiten der physischen Ausdehnung im Raum, die ein Mädchen nicht genießt. Ein kleines, aber bezeichnendes Ereignis erläutert den Sinn, auf den sich Girauds Prosatext zubewegt: Eines Abends trägt die dreizehnjährige Ich-Erzählerin einen mit leckeren Broten gefüllten Teller in ihr Kinderzimmer, um es sich dort gemütlich zu machen wie in den Jahren zuvor auch schon häufig. Die Mutter begegnet ihr im Flur und sagt halb mahnend, halb entsetzt:
"Willst du die alle essen?"
Die Kommerzialisierung des Körpers ist zur Selbstverständlichkeit geworden
Was im Subtext bedeutet: Weißt du, was du dir und deinem Leben antust, wenn du die ganzen Kalorien in dich reinstopfst? Urplötzlich wandelt sich das Verhältnis des Mädchens zu seinem Körper. Er wird zum Problemfall, zu einer Sache, die kontrolliert, überwacht, geformt werden muss. Aus "Einen Körper haben" wird das Gesetz, welches lautet: Einen Körper machen". Der Unterschied der Sätze betrifft nur ein Verb. Aber er bezeichnet die Kommerzialisierung des Körpers, die in der Spätmoderne zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Der Blick in den Spiegel zeigt uns nicht den Körper, den wir haben, sondern den, den wir haben sollten; schlanker, jünger, faltenloser, muskulöser, aufrechter, großbrüstiger, was auch immer. Diesem Diktat stellt Brigitte Giraud die Biografie des kreatürlichen Körpers gegenüber.
Das Buch schließt mit einem tragischen Ereignis
Der biologische Kreislauf von Geburt und Tod schließt sich am Ende des Buches mit einem tragischen Ereignis. Der Partner der Ich-Erzählerin, der Vater ihres kleinen Sohnes, kommt bei einem Motorradunfall ums Leben. Wer ihn verschuldet hat, welche Verletzungen er auslöste - all das teilt der Text nicht mit. Stattdessen konzentriert er sich auf das Mysterium des toten Körpers, den der Lebende hinterlässt, ein Körper, der kein Ich mehr besitzt und doch vollkommen individuell ist.
"Einen Körper haben" ist ein literarisch nicht ganz unriskantes Unternehmen. In manchen Passagen streift Giraud jenen Weiblichkeitskult, der von fern an die Körperfixierung bestimmter Feminismusfraktionen der 70er Jahre erinnert. Man verzieht dies dem Roman aber gern. Das Manifest der Entkontrollierung des körperlichen Seins, das in ihm steckt, wiegt schwerer als manche Schwäche.
Brigitte Giraud: Einen Körper haben
Aus dem Französischen von Anne Braun
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2016
252 Seiten, 19,99 Euro
Aus dem Französischen von Anne Braun
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2016
252 Seiten, 19,99 Euro