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Neues Epidemie-Gesetz in NRW
"Grundrecht auf Leben ist stärker zu bewerten als Freiheitsrechte"

Auch auf Bundesebene könnte es zu Grundrechte einschränkenden Regelungen kommen, wie sie das neue Epidemie-Gesetz in Nordrhein-Westfalen vorsieht, glaubt Oliver Wittke (CDU). Wenn es darum gehe, Menschenleben zu retten, müssten andere Grundrechte hinter dem Recht auf Leben zurückstehen.

Oliver Wittke im Gespräch mit Christine Heuer | 01.04.2020
Der CDU-Politiker Oliver Wittke im April 2017 beim Landesparteitag in Münster.
Der CDU-Politiker Oliver Wittke hält Einschränkungen von grundgesetzlichen Freiheitsrechten für gerechtfertigt, wenn es um den Schutz von Leben geht (imago / Rüdiger Wölk)
Als Reaktion auf die aktuelle Coronakrise hat die nordrhein-westfälische Landesregierung unter Ministerpräsident Armin Laschet auf die Schnelle ein neues Epidemie-Gesetz geschrieben. Das neue Gesetz soll unter anderem ermöglichen, Ärzte und Pfleger zwangszurekrutieren und medizinisches Material zu beschlagnahmen. Kritiker sagen, die Gesetzesvorlage sei in mehreren Punkten verfassungswidrig. Trotzdem wollte Laschet sein Vorhaben im Eiltempo durchs Parlament bringen. Nun hat er eingelenkt und möchte nun doch Experten anhören und das Parlament einige Tage beraten lassen vor einer Abstimmung.
Oliver Wittke, CDU-Bundestagsabgeordneter und ehemaliger Verkehrsminister in Nordrhein-Westfalen, verteidigte im Gespräch mit dem Dlf die Gesetzesinitiative von Laschet. Der NRW-Ministerpräsident wolle vorbereitet sein, "wenn es zu einer wirklich großen Katastrophe kommen sollte". Auch auf Bundesebene seien dann ähnliche Regelungen denkbar, meinte Wittke.
"Laschet will vorbereitet sein"
Christine Heuer: Armin Laschet, Herr Wittke, drängt auf das Ende des Ausnahmezustandes – ausdrücklich wegen der starken Grundrechtseingriffe – und er will gleichzeitig aber ein Notstandsgesetz mit noch stärkeren Grundrechtseingriffen für Nordrhein-Westfalen. Wie passt das zusammen?
Oliver Wittke: Na ja, Armin Laschet will zuerst einmal vorbereitet sein. Wenn es noch schlimmer kommen sollte, dann muss es angemessene Maßnahmen geben, und ich glaube, das ist genau die Aufgabe eines Ministerpräsidenten, vorausschauend die notwendigen Maßnahmen vorzubereiten.
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Heuer: Ist es notwendig und angemessen, im Notfall Ärzte zwangszuverpflichten?
Wittke: Das sehen andere gesetzliche Regelungen auch vor auf Bundesebene. Das Beispiel Bayern ist schon genannt worden. Ich glaube, auch in Nordrhein-Westfalen müssen wir vorbereitet sein, wenn es zu einer wirklich großen Katastrophe kommen sollte, dass Ärzte dann nicht in irgendwelchen Verwaltungen, in irgendwelchen Behörden, in irgendwelchen Unternehmen nichtmedizinische Dienste leisten, denn dann brauchen wir wirklich jeden Mann und jede Frau.
Heuer: An wen genau denken Sie da? Können Sie das noch ein bisschen näher beschreiben?
Wittke: Es gibt beispielsweise bei Krankenkassen eine Vielzahl von Medizinern, die wichtige Aufgaben wahrnehmen. Aber wenn es darum geht, Patienten zu versorgen, wenn ein Ärztenotstand droht, weil beispielsweise auch Mediziner ausfallen, weil sie infiziert worden sind, und ihre Tätigkeit nicht mehr ausüben können. Dann kann es vernünftig und dann kann es sinnvoll sein, in solchen Ausnahmesituationen Ärzte zu verpflichten, als Ärzte tätig zu werden und nicht Verwaltungsaufgaben wahrzunehmen.
"Es geht darum, möglichst viele Menschenleben zu retten"
Heuer: Sie meinen dann aber schon aktive Ärzte, oder geht es da auch um pensionierte Ärzte, und wir reden ja auch über Pfleger?
Wittke: Es kann auch um pensionierte Ärzte gehen, aber erst einmal geht es natürlich um diejenigen, die im aktiven Berufsleben stehen, aber Verwaltungstätigkeiten ausüben. Ich will das jetzt nicht kleinreden, auch das ist wichtig, auch das ist notwendig, aber es geht am Ende darum, Menschenleben zu retten, so viele wie möglich, und dazu Vorbereitungen zu treffen, das ist die Aufgabe der nordrhein-westfälischen Landesregierung.
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Heuer: Das heißt aber doch konkret, Herr Wittke, Sie finden es auch angemessen und notwendig, zum Beispiel Ärzte und Pfleger in die Kliniken zu zwingen, die vielleicht gar nichts von Intensivmedizin verstehen – wäre ja möglich – und die vielleicht auch einfach relativ alt sind, weil sie Ruheständler sind, also selbst zu Risikogruppen gehören? Das finden Sie alles angemessen und notwendig?
Wittke: Erst mal sind wir noch von einer solchen Situation entfernt. Es geht darum, Vorsorge zu treffen, wenn es zum schlimmsten Fall kommen sollte, und wir alle kennen die Bilder aus New York, wir kennen die Bilder aus Norditalien, wir kennen sie aus Spanien. Wir hoffen, dass uns das erspart bleibt. Viele Maßnahmen sind ergriffen worden – im Übrigen nicht nur von der Politik, sondern auch von der Zivilgesellschaft. Das funktioniert in Deutschland relativ gut. Aber man muss für einen schlimmeren Verlauf der Epidemie vorbereitet sein, und da gehört es beim politischen Verantwortungsträger dazu, diese Vorbereitungen zu treffen, und dazu gehören dann auch so außergewöhnliche Maßnahmen. Ja, das kann im Extremfall ein Lösungsweg sein. Ich will ihn nicht herbeireden. Es ist auch die Ultima Ratio. Aber am Ende – ich sage es noch einmal – geht es darum, möglichst viele Menschenleben zu retten.
"Nicht die Zeit für irgendeinen parteipolitischen Streit"
Heuer: Interessant! – Dann bleiben wir noch ein bisschen bei der praktischen Seite und ich frage Sie mal: Was ist denn der schlimmste Fall? Wenn ich das richtig verstehe, ist das im Epidemie-Gesetz von Armin Laschet gar nicht beschrieben.
Wittke: Der schlimmste Fall ist, dass beispielsweise Patienten keine ärztliche Versorgung mehr bekommen können, weil es zu wenig medizinisches Fachpersonal gibt, zu wenig pflegerisches Fachpersonal gibt. Und in solchen Fällen müssen weitere Gruppen mobilisiert werden, um sowohl medizinisch wie auch pflegerisch versorgen zu können. Das ist die Aufgabe eines Gesundheitswesens und da sind nicht nur Krankenhäuser gefragt, da sind nicht nur andere staatliche Stellen gefragt, sondern da sind auch Regierungen gefragt, Vorbereitungen zu treffen und einen sicheren Rechtsrahmen zu geben. Zu diesem sicheren Rechtsrahmen gehört dann ein sauberes parlamentarisches Verfahren.
Ich finde es klug, dass Armin Laschet versucht, wie das auch in Bayern geschehen ist – da haben ja SPD und Grüne einer viel weitergehenden Gesetzgebung zugestimmt – auch hier in Nordrhein-Westfalen die Opposition einzubinden. Das ist jetzt nicht die Zeit für irgendeinen parteipolitischen Streit, sondern hier geht es jetzt darum, eine möglichst breite Mehrheit für die Schaffung von Instrumentarien für den Worst-Case zu schaffen.
"Das Recht auf Leben ist das höchste Schutzgut"
Heuer: Herr Wittke! Sie haben jetzt mehrfach Bayern erwähnt. Es stimmt, da gibt es ein ähnliches Gesetz. Trotzdem ist ja auch dort die Frage, oder wenn man da hinschaut jedenfalls die Frage und auch die Kritik von vielen Verfassungsexperten, nicht nur der Opposition, an dem Gesetz von Armin Laschet, es sei mit dem Grundgesetz so, wie es geschrieben ist, nicht vereinbar. Widersprechen Sie?
Wittke: Ja, da widerspreche ich auf das Äußerste. Denn die körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Leben ist das höchste Schutzgut, das das Grundgesetz hergibt, und da müssen andere Freiheitsrechte hinter zurückstehen. Das haben wir in anderen Bereichen ja heute schon. Wenn es weitreichende Regelungen gibt, was zum Beispiel die Einschränkung der Bewegungsfreiheit anbelangt, dann ist das auch schon ein massiver Eingriff in die Grundrechte, der wirklich alles andere als Freude bereitet. Aber der am Ende dazu geführt hat, dass wir heute mit der Krise im Moment noch besser dastehen als andere Länder, die nicht so schnell und so konsequent gehandelt haben. Darum ist es immer eine Abwägungsfrage. Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, das Grundrecht auf Leben ist sicherlich viel, viel stärker zu bewerten als Freiheitsrechte, als Selbstbestimmungsrechte, als andere Grundrechte, die ich nicht kleinreden möchte, die wir auch schützen müssen, die wir im Auge halten müssen, aber die dann, wenn es um Leben und Tod geht, zurückstehen müssen.
Heuer: Selbstbestimmung und die Freiheit der Berufsausübung - darum geht es ja -, das finden Sie einfach nicht so wichtig?
Wittke: Doch, das sind wichtige Grundrechte, und das sind in normalen Zeiten existenzielle Bestandteile unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Aber wenn es um Leben und Tod geht, wenn es darum geht, ob Menschenleben gerettet werden können, dann müssen diese Grundrechte hinter dem Recht auf körperliche Unversehrtheit und dem Recht auf Leben zurückstecken.
"Auf Bundesebene wird es ähnliche Regelungen geben"
Heuer: Herr Wittke! Wenn das so richtig ist, wie Sie das sehen, wie Herr Laschet das sieht, wie manche in Bayern das sehen, dann müsste man das doch bundesweit erlassen.
Wittke: Auf Bundesebene gibt es ähnliche Bestrebungen. Auf Bundesebene wird es ähnliche Regelungen geben. Dessen bin ich mir ganz, ganz sicher. Und es geht ja jetzt auch nicht darum, dass heute oder morgen das schon zur Anwendung kommt, sondern es geht darum, vorbereitet zu sein für den Fall X, wenn es wirklich schwieriger wird, wenn die Situation weiter eskalieren sollte. Man kann sicher sein – und darum ist die Verständigung mit der Opposition auch so wichtig -, dass die Politik alles daransetzen wird, alle Grundrechte soweit wie möglich zu gewährleisten. Es geht hier nicht um Beliebigkeit. Es geht hier nicht darum, dass mal eben wie in anderen Staaten auch innerhalb Europas Ermächtigungsgrundlagen geschaffen werden, sondern es geht am Ende darum, Menschenleben zu retten, und das muss eine gemeinsame Aufgabe sein.
Heuer: Herr Wittke! Wenn Sie sagen, es gibt Bestrebungen im Bund, oder Sie vermuten das, oder Sie wissen das, aber es ist jedenfalls noch nicht in der öffentlichen Debatte, wer hat denn diese Bestrebungen? Wird Jens Spahn, der Bundesgesundheitsminister, sich jetzt anschicken, so etwas auch im Bund zu etablieren?
Wittke: Na ja. Wir haben eine Aufgabenteilung im föderalen System. Das heißt, die Länder sind beispielsweise für die Gesundheitsversorgung vor Ort zuständig. Da geht es auch um Personal, da geht es auch um die entsprechenden Fachkräfte, sowohl im pflegerischen Bereich wie auch im ärztlichen Bereich. Dieser Aufgabe muss eine Landesregierung nachkommen. Das ist zuerst einmal nicht Aufgabe des Bundes, sondern da müssen die Länder die entsprechenden Regelungen schaffen. Es wird ja auch zurecht von den Ländern angemahnt, beispielsweise bei der Versorgung mit medizinischem Gerät tätig zu werden. Es wird zurecht angemahnt, dass von der Atemschutzmaske bis zum Beatmungsgerät …
Kompetenzgerangel zwischen Bund und Ländern wäre fatal
Heuer: Aber warum braucht es dann Bestrebungen im Bund, von denen Sie sprechen?
Wittke: Wir werden das auf Bundesebene, wenn es zu einer Zuspitzung der Situation kommt – da bin ich fest von überzeugt -, ganz genauso erleben. Wir werden eine solche Debatte dort auch bekommen. Da muss im föderalen System jeder seine Hausaufgaben machen. Ich finde, wir in Nordrhein-Westfalen haben unsere Hausaufgaben bisher sehr, sehr gut geregelt. Wenn wir uns daran erinnern, dass einer der Hotspots mit dem Kreis Heinsberg, mit Gangelt bei uns in Nordrhein-Westfalen lag, dann haben wir das, glaube ich, bisher relativ gut in den Griff bekommen.
Heuer: Herr Wittke! Ich will es nur noch mal ganz kurz, weil uns ein bisschen die Zeit wegrennt, zuspitzen. Sie sehen Jens Spahn da an der Seite von Armin Laschet? Ist das so?
Wittke: Ja. Da, glaube ich, gibt es eine enge Abstimmung auch zwischen der nordrhein-westfälischen Landesregierung und der Bundesregierung. Das muss auch so sein, denn wenn es jetzt ein Kompetenzgerangel gäbe, dann wäre das fatal.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.