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Neues Gore-Buch
Fleißarbeit ohne Analyse

Der ehemalige US-Vizepräsident Al Gore hat für sein Engagement in der Umweltpolitik den Friedensnobelpreis erhalten und für einen Film über den Klimawandel den Oscar. Sein neues Buch "Die Zukunft" ist eine Fleißarbeit, in der er zahlreiche Themen der Zukunft zusammenträgt - für unseren Rezensenten trotzdem lesenswert.

Von Mirko Smiljanic | 12.05.2014
    Der ehemalige Vizepräsident Al Gore bei einer Podiumsdiskussion in Davos
    Der ehemalige Vizepräsident Al Gore hat in seinem aktuellen Buch auf 624 Seiten Fakten und Meinungen zusammengetragen. (picture alliance / dpa - Jean-Christophe Bott)
    Im Jahr 2000 auf dem Höhepunkt des Präsidentschaftswahlkampfes zwischen George W. Bush und Al Gore machte in den USA ein wenig schmeichelhafter Satz die Runde: "Gore habe in seinem Leben wahrscheinlich mehr vergessen, als Bush je wissen wird." Die Stoßrichtung war klar: Auf der einen Seite stand der dumpfe Einfaltspinsel, auf der anderen der kritisch denkende Intellektuelle, der fähig ist, den Problemen dieser Welt endlich einmal gründlich Paroli zu bieten. Wie die Wahl ausging, wissen wir: Bush gewann die Präsidentschaft äußerst knapp und nicht unumstritten im Wahlchaos von Florida. Al Gore zog sich nach der Niederlage aus der Politik zurück, schrieb Bücher und pflegt bis heute das Image eines klugen Denkers, eines Menschen mit Liebe zum Detail und Kraft zur Vision.
    "Dieses Buch ist reich an Zahlen und stützt sich nicht auf Spekulationen, Panikmache, naiven Optimismus oder Schönwetterprognosen, sondern auf fundierte Studien und Berichte. Es ist das Ergebnis vieler Jahre Arbeit, in denen ich die besten verfügbaren Belege und die Aussagen weltweit führender Fachleute über die Zukunft, die wir uns gerade schaffen, recherchiert, interpretiert und präsentiert habe."
    "Die Zukunft – Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern" ist eine Sammlung von Ideen und Informationen, die alle um eine einzige Frage kreisen: Welche Kräfte gestalten unsere Zukunft? Für Al Gore sind es diese:
    "Die Welt AG beziehungsweise die Globalisierung; das Weltgehirn beziehungsweise die Revolutionen in der digitalen Kommunikation; die Machtfrage beziehungsweise die Verschiebung geopolitischer Machtverhältnisse; die Auswüchse beziehungsweise eine fehlgeleitete, allein auf Wachstum ausgerichtete Wirtschaftspolitik; die Neuerfindung von Leben und Tod beziehungsweise die Möglichkeiten der Biotechnik, der Neurowissenschaften und der Gentechnik; und der Abgrund beziehungsweise der nicht nachhaltige Umgang mit unserer Umwelt und unseren Ressourcen."
    Gedankenlandkarten zur Einleitung von Kapiteln
    Jedem Kapitel stellt Al Gore eine Mindmap voran, eine Gedankenlandkarte. Ins Zentrum stellt er das jeweilige Stichwort, von dem dünne Linien zu Unteraspekten führen, die sich dann ebenfalls wieder auffächern. Nun mögen Mindmaps für Autoren hilfreich sein, Außenstehende empfinden sie eher als verwirrend. So ist es auch bei Al Gore. Das Stichwort "Welt AG" unterteilt er unter anderem in die Aspekte "Rückgang der Armut", "3D-Druck", "Transformation der Produktionsfaktoren", "Größere Handelsströme", "Scheinliquidität" und "Flash Crash." Inhaltlich gefüllt werden die Begriffe erst in den nachfolgenden Texten.
    "Am 6. Mai 2010 fiel der Dow Jones an der New Yorker Börse um 1.000 Punkte, nur um anschließend um fast so viele Punkte wieder zu steigen - und das alles in einer Zeitspanne von 16 Minuten und ohne ersichtlichen Grund. ... Spezialisten mussten fünf Monate intensiv recherchieren, bis die Ursache für diesen sogenannten Flash Crash klar war, nämlich eine hochkomplexe Interaktion zwischen automatischen Handelsalgorithmen."
    Immense Bandbreite an Themen
    In diesem Stil summieren sich Fakten und Interpretationen auf rund 500 Seiten – der Anhang ist 100 Seiten stark. Es gibt nur wenige Themen, die Gore nicht behandelt, die Bandbreite ist immens. Beim Stichwort "Auswüchse" geht es um das weltweite Bevölkerungswachstum:
    "Unsere Spezies brauchte 200.000 Jahre, um auf eine Milliarde Menschen anzuwachsen, doch allein in den ersten 13 Jahren dieses Jahrhunderts kam die gleiche Zahl hinzu."
    Zwei Seiten weiter beschäftigt ihn das Thema "Fettleibigkeit".
    "Eine aktuelle Studie sagt voraus, dass im Jahre 2030 die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung der USA fettleibig sein wird, ein Viertel davon sogar 'stark fettleibig'."
    Al Gore referiert über das Phänomen des Massenmarketings, dessen Wegbereiter er unter anderem bei Sigmund Freud und seiner Theorie des Unbewussten sieht; später spielt der Abfall eine Rolle, das sich wandelnde Familienbild, Migrationsbewegungen, Internet und Datenschutz, Megastädte, Herztransplantationen, die Gefahren für das Grundwasser- und den Mutterboden, der westfälische Friede, YouTube und so weiter.
    Fleißarbeit ohne Analyse
    Selbstredend wiederholt sich das Muster bei den anderen "Kräften, die unsere Welt verändern". Eine Studie nach der anderen zitiert er, Wissenschaftler kommen zu Wort, Insider- und Gesprächsnotizen fließen ein. Al Gore hat eine Fleißarbeit abgeliefert. Das ist gut und lobenswert! Genau das ist aber auch das Problem! Es fehlt die Analyse. Nun muss man fairerweise sagen, dass er nichts anderes angekündigt hat. Er beschreibt schlicht Aspekte, die zukünftig wichtig werden. Natürlich bestimmt die Digitale Revolution ebenso unsere Zukunft wie die Globalisierung, die Klimafrage und die Gentechnik. Neu ist das aber nicht. Interessant ist das Buch aber trotzdem. Immer wieder fragt sich Al Gore, wer die Zukunft denn gestalten soll. Und da entpuppt sich der global denkende Visionär als nationaler Patriot.
    "Die Weltgemeinschaft braucht dringend eine Führungsmacht, die sich auf die grundlegenden menschlichen Werte stützt. Dieses Buch richtet sich zwar an eine Leserschaft auf der ganzen Welt, enthält aber auch eine besondere und dringende Botschaft an die Bürgerinnen und Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika, die heute das einzige Land sind, das die notwendige weltweite Führungsrolle übernehmen kann."
    Vor dem Hintergrund des chinesischen Aufstiegs zur Weltmacht und der Krise in der Ukraine, auch vor dem Hintergrund des NSA-Skandals, sind diese Sätze ausgesprochen ambitioniert. Lesenswert ist das Buch auf jeden Fall. Denn es spiegelt das Denken eines ebenso kritischen wie überzeugten Amerikaners wider. Dieses Denken zu kennen und zu verstehen, ist auch für Europäer nützlich.
    Al Gore: "Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern",
    Siedler Verlag, 624 Seiten, 26,99 Euro
    ISBN: 978-3-827-50042-7