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Debatte im Literaturhaus Berlin
Europa mit Sinn und Leben füllen

Für welches Europa lohnt es sich, zur Wahlurne zu gehen? Diese Frage wurde im Literaturhaus in Berlin diskutiert. Dabei wurde klar: Europa sollte seine humanistischen Ideale und seine Demokratie verteidigen, anstelle sich in Angst und Sorgen zu verlieren.

Von Cornelius Wüllenkemper | 06.05.2019
Eine Europa-Flagge steckt auf der Blumenschau "Chrysanthema" in Lahr inmitten einer Europakarte.
Die Veranstaltung versuchte sich dem vielgestaltigen, ungreifbaren Phänomen Europa anzunähern (dpa/Patrick Seeger)
"Ist Europa nicht auch der Luxus, der unglaubliche Luxus, ewig herummäkeln zu dürfen?"
Fragte zum Auftakt des Abends Janika Gelinek vom Leitungsduo des Literaturhauses Berlin. Gelinek machte die Relevanz des Themas allen Ernstes daran fest, dass das Kundenmagazin der Deutsche Bahn-AG Europa als Titelstory gewählt habe. Ob die Leitung des Hauses sich da an den richtigen Kriterien orientiert, ist zumindest fraglich. Das fand übrigens auch Gelinkes Kollegin Sonja Longolius.
"Europa ist definitiv zu wichtig, um es den Politkern und Politikerinnen oder einer Zeitschrift wie "mobil" zu überlassen."
Europas Zukunft ist weiblich
Fest steht: Europas Zukunft ist weiblich. Warum auch nicht? Die Hamburger Autorin Svenja Leiber etwa verglich Europas Schicksal mit der – wie sie sagte "ziemlich männlichen" - literarischen Figur des Faust, der alles hat, aber sein Glück nicht findet.
"Und was geschieht, als Faust sich zu sorgen beginnt? Er erblindet und stirbt. Und genau das wird Europas Schicksal, wenn es meint, an die Stelle des Mutes, des Mitgefühls, der Großzügigkeit gehörten Angst und Sorge."
Dass Europa sich in Sorge und Angst verliere, anstatt die ursprünglichen Ideale des Humanismus, der Gleichheit und der Demokratie zu verteidigen, war ein wiederkehrendes Motiv des Abends über "Politische Träume".
"So wie die Juden die ersten Deutschen waren, weil sie nicht Bayer werden konnten oder irgendwelche anderen Kleinstaaten-Menschen, so würden die Muslime die ersten Europäer werden."
Europäische Identität als toxisches Thema?
Sagte die Journalistin und Aktivistin Kübra Gümüşay. Ob diese vom umstrittenen Islamwissenschaftler Tariq Ramadan stammende These geeignet ist, Ängste zu beruhigen, sei dahingestellt. Gümüşay ist jedenfalls davon überzeugt, dass die Zukunftsängste der Europäer, die Verunsicherung gegenüber einer europäischen Identität auf dem politischen Parkett zu "toxischen" Themen geworden seien.
"Ich glaube, es die Aufgabe von Kunst, von Lyrik und von Poesie, die Angst, die da ist, sichtbar zu machen. Weil, dann wird deutlich, wir haben etwas zu verlieren. Und das ist es, was ich denke, was sich grundsätzlich ändern muss, damit Menschen zu Wahlen gehen, damit Menschen wissen, dass jeden Tag um Demokratie und Menschenrechte gekämpft werden muss."
Sollen Politiker und auch Intellektuelle, wie Kübra Gümüşay ausdrücklich forderte, die Sorgen der Europäer tatsächlich ignorieren, damit die Bürger unbekümmert zur Wahlurne schreiten können? Dies war nicht die einzige Idee an diesem Abend, die zumindest etwas unüberlegt erschien. Die einfachen Antworten auf die Frage, was Europa ist, sein könnte und werden sollte, waren überzeugender.
Das Frage nach dem "Wie" kommt vor dem "Warum"
"Australien ist nicht Europa."
Stellte die australische Autorin Mireille Juchau fest. Sie recherchiert in Berlin auf den Spuren ihrer Großmutter, die die Reichshauptstadt 1939 verlassen musste. Die kanadisch-chinesische Erfolgsautorin Madeleine Thien wiederrum machte einen bedenkenswerten Vorschlag, wie sich die Literatur dem vielgestaltigen, ungreifbaren Phänomen Europa nähern könnte.
"Der Prozess der Beschreibung, wie die Dinge sich präsentieren, ist die Art des Schriftstellers, die Frage nach dem "warum" zu beantworten. Der Geschichtenerzähler weiß genau, dass wenn wir nicht nach dem "wie" fragen, wir nie das "warum" kennen werden."
Der britische Schriftsteller und Künstler Tom McCarthy, der sich selbst ausdrücklich nicht als Brite, sondern als EU-Bürger vorstellte, las aus seinem Manifest über die "Maschine für ein Europäisches Theater".
"Europa ist ein Apparat, eine Maschine. Oder, um einen Begriff zu wählen, der mir als Schriftsteller näher liegt: Europa ist eine Fiktion, eine der reichsten, brillantesten und dunkelsten, voller Gefahren und Potentiale, wie sie nie zuvor erfunden wurde."
Mit Humor dem Begriff Europa einen Sinn geben
Theater sei eine Maschine, die den Sinn der Demokratie in die Welt bringe, so McCarthy. Auf der Bühne des Alltags sähe er gerne Schauspieler, deren Worte durch den Lauftraum schweben, Rufe des Publikums in 20 verschiedenen Sprachen, Hundebellen, Kindergelächter, Grillgeruch und jede Menge Zigarren, wie der Dramatiker Heiner Müller sie einst rauchte. Es waren die humorvollen, verträumten und selbstironischen Momente des Abends, an dem der Begriff "Europa" mit Leben und mit Sinn gefüllt wurde und das Publikum eine Idee davon erhalten konnte, für welches Europa es sich lohnt, zur Wahlurne zu gehen.