Freitag, 19. April 2024

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Neues Papier der Hamas
"Wir wissen nicht, ob es wirklich die Charta ersetzen wird"

Das veröffentlichte Papier der Hamas deutet Marc Frings von der Konrad-Adenauer-Stiftung Ramallah als ein "politisches Programm". Zwar sei es wesentlich moderater als die bisherige Charta der Palästinenser-Organisation, werde diese aber kaum ersetzen. Vermutlich solle damit der internationalen Staatengemeinschaft deutlich gemacht werden: "Seht her, wir bewegen uns."

Marc Frings im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 02.05.2017
    Ein bewaffneter Hamas-Aktivist läuft in Gaza-Stadt unter einer Palästinenser-Flagge.
    "Die Charta hat durchaus militantere Positionen, versucht, damit auch radikalere Kreise weiterhin zu erreichen", sagte Marc Frings, Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung im palästinensischen Ramallah. (dpa / picture alliance / Mohammed Saber)
    Tobias Armbrüster: In den völlig festgefahrenen Nahost-Konflikt könnte Bewegung kommen. Donald Trump scheint von dem Gedanken beseelt, als Vermittler eines Deals im wahrscheinlich längsten Konflikt der Welt in die Geschichtsbücher einzugehen. Die israelische Regierung ist entsetzt über die Ambitionen des US-Präsidenten. Der greise Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas, der mit seiner Fatah-Partei das Westjordanland regiert, reist morgen nach Washington, und zwar mit der Botschaft, Frieden ist möglich. Und jetzt kommt auch noch die Hamas und sie, die den Gazastreifen kontrolliert, sie scheint jetzt bereit, Israel in den Grenzen, wie sie vor dem Krieg von 1967 galten, anerkennen zu wollen. So steht es in einem Beschluss der Islamistenpartei.
    Am Telefon ist jetzt Marc Frings. Er ist Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung im palästinensischen Ramallah. Schönen guten Tag, Herr Frings.
    Marc Frings: Guten Tag, Herr Armbrüster.
    "Die Charta hat durchaus militantere Positionen"
    Armbrüster: Herr Frings, die Hamas ist bereit, unter bestimmten Umständen einen Staat Israel in den Grenzen von 1967 anzuerkennen. Was ist von diesem Papier zu halten?
    Frings: Ich glaube, das Entscheidende ist, dass wir noch gar nicht genau wissen, ob es wirklich die Charta ersetzen wird. Das ist aus meiner Sicht bislang noch nicht der Fall. Die Indizien sind unterschiedlich gelagert. Ich würde es eher als ein politisches Programm deuten, das möglicherweise neben der Charta weiter existieren wird, gewiss auch mit ihr konkurrieren wird, denn die Charta – das wurde auch gerade im Beitrag deutlich – hat durchaus militantere Positionen, versucht, damit natürlich auch radikalere Kreise weiterhin zu erreichen, wo hingegen dieses neue Programm, das nun vorgestellt wurde, wesentlich moderater ist und damit vermutlich auch eine andere Zielgruppe erreichen soll, nämlich insbesondere das Ausland, das nahe Ausland, sprich Ägypten, aber auch die internationale Staatengemeinschaft, um deutlich zu machen, seht her, wir bewegen uns und sind bereit, einige Forderungen aufzugreifen, die der Westen schon seit Jahren an uns richtet.
    Armbrüster: Ist das denn tatsächlich eine Bewegung innerhalb der Hamas, oder ist das eher ein bisschen Schaufensterpolitik?
    Frings: Ich glaube, es ist eher Letzteres. Man muss vielleicht auch die letzten zehn Jahre mit berücksichtigen. Die Hamas hat jetzt niedergeschrieben, was seit einigen Jahren bereits Praxis ist. Ich würde hier auch 2006 schon beginnen wollen, als das letzte Mal auf nationaler Ebene gewählt wurde. Das waren die Wahlen zum Legislativrat, dem Quasi-Parlament der Palästinenser. Damals hat die Hamas erstmals an diesen Wahlen teilgenommen und damit indirekt auch das Osloer Friedensabkommen anerkannt, das Abkommen, das die Beziehungen zwischen den Palästinensern und den Israelis bis heute regelt. Damit wurde indirekt natürlich auch dieses Regime anerkannt, das die Hamas offiziell bis heute ablehnt und das die PLO unterzeichnet hat, und letztlich ist es ein Dokument voller Widersprüche und auch ein Signal des Widerspruchs, denn zu jedem der Punkte, die jetzt vielleicht als Neuerungen erscheinen, kann letztlich auch wiederum ein Gegenargument aufgemacht werden. Natürlich heißt es jetzt beispielsweise, ein Palästinenser-Staat nur in den Grenzen von 1967, wie es gerade auch im Beitrag anklang, sei möglich, aber ich glaube, man muss es eher als ein Übergangsszenario beschreiben, denn langfristig wird zwar nicht mehr von der Zerstörung Israels gesprochen, aber doch von der kompletten Befreiung des Landes zwischen Jordan und Mittelmeer, was man für Palästina haben möchte, und das gilt auch für die Ideologie. Man sieht zwar, dass Koran-Bezüge rausgestrichen wurden, aber trotzdem, wenn man den auch englischsprachigen Twitter-Account von Hamas verfolgt, es gibt immer noch ganz deutliche Bezüge zum Islam, zur Muslimbruderschaft, die nach wie vor eine große Rolle spielen. Aber man hat sich rhetorisch darauf verständigt, hier auf Distanz zu gehen, und das wurde auch gerade im Beitrag gesagt, um die Situation hinter sich zu lassen, in der man sich gerade befindet.
    "Man beugt sich hier auch dem Druck von General Sisi"
    Armbrüster: Welche Perspektiven würden sich denn eröffnen, wenn diese Strömung tatsächlich an Gewicht gewinnen würde innerhalb der Hamas, diese Strömung, die da sagt, ein Staat Israel oder ein Staat Palästina ist möglich in den Grenzen von '67?
    Frings: Das bedeutet kurzfristig vermutlich mehr Überlebensfähigkeit, wenn es darum geht, die Beziehungen mit Ägypten wiederherzustellen. Ich glaube, das ist ein wichtigerer Bezug, den ich noch voranstellen würde, nämlich dass nicht mehr die Muslimbruderschaft so im Fokus der Ideologie steht. Damit wird deutlich, man beugt sich hier auch dem Druck von General Sisi, der die Muslimbruderschaft auch als Terrororganisation eingestuft hat. Man ist darauf angewiesen, dass der Grenzübergang zwischen dem ägyptischen Sinai und Gaza, Rafah, geöffnet wird, dass hier auch wirtschaftliche Erfolge generiert werden können. Auf der anderen Seite, wenn man sich es politisch anschaut, hat man natürlich wieder einen Trumpf im Ärmel und kann sich gegenüber der säkularen Fatah als die aktivere, als die innovativere Bewegung präsentieren, deutlich machen, wir stehen auch für neue politische Positionen, etwas, was die Fatah bei ihrem letzten Parteitag im November, der in Ramallah stattgefunden hat, leider nicht geschafft hat. So hat sie erst einmal die Chance, wieder mittelfristig an Boden gut zu gewinnen.
    Armbrüster: Und die Fatah, auf die sind natürlich in diesen Tagen alle Augen oder viele Augen zumindest gerichtet, denn Palästinenserpräsident Abbas von der Fatah, der reist ja morgen zu Gesprächen nach Washington. Steht diese Meldung über die angeblich geänderte Hamas-Charta in irgendeinem Zusammenhang mit diesem Besuch?
    Frings: Ich glaube, dass Abbas morgen mit einer ganzen Reihe von eher ernüchternden Entwicklungen in Washington aufschlagen wird. Sehen Sie, der Split zwischen Hamas und Fatah, der ist jetzt ungefähr zehn Jahre alt, und wenn man sich die aktuelle Lage anschaut, dann hat man den Eindruck, so schlecht war die Aussicht auf nationale Versöhnung nie. Das heißt, dass Abbas unter einem vergleichbar großen Druck steht wie die Hamas allein im Gazastreifen. Er hat zuletzt die Daumenschrauben angedreht, es ist von Gehaltskürzungen für die Beamten der Autonomiebehörde im Gaza die Rede, es werden nicht mehr Kosten für Strom in Gaza gezahlt, sodass die Menschen dort etwa 20 Stunden am Tag ohne Licht leben, in der nächsten Woche sollen Kommunalwahlen stattfinden, vermutlich nur in der Westbank unter Ausschluss des Gazastreifens, weil die Hamas hier nicht teilnehmen möchte. All dies sind eher kritische Entwicklungen und ich glaube, man darf sich vor der Entwicklung in Gaza und den Tendenzen dort nicht verschließen, denn wenn der Westen – und das ist ja das, was Präsident Trump nun versucht – einen neuen Anlauf macht, um den verfahrenen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern zu revitalisieren, dann muss auch Gaza thematisiert werden. Man darf nicht den Eindruck haben, dass Frieden nur mit Ramallah machbar ist, sondern man muss schauen, im Gazastreifen leben zwei Millionen Menschen, die in keiner Weise die Chance haben, Abbas eine Legitimation zu verleihen, und entsprechend braucht es einen langen Weg, der die nationale Versöhnung braucht, der Parteitage braucht und der dann irgendwann in nationale Wahlen münden muss.
    "Die Hamas hat gerade eine sehr große Medienpräsenz"
    Armbrüster: Herr Frings, zum Schluss noch eine ganz kurze Frage mit Bitte um kurze Antwort. Wir berichten über dieses Thema ja ausführlich. Diese geänderte Hamas-Charta ist auch ein Thema heute in allen großen deutschen Tageszeitungen. Wie wird das Ganze in den besetzten Gebieten selbst diskutiert? Ist es dort überhaupt ein Thema?
    Frings: In den palästinensischen Gebieten ist es schon seit einer ganzen Weile ein Thema. Man muss das im Zweiklang betrachten. Zum einen wurde schon viel kolportiert über dieses neue Dokument. Aber das mediale Momentum ist auch deswegen auf der Seite der Hamas, weil gerade parteiinterne Wahlen stattfinden, auf allen Ebenen und in allen geografischen Entitäten, im Gazastreifen, in der Westbank, in den israelischen Gefängnissen und im Exil. Insofern hat die Hamas gerade eine sehr große Medienpräsenz und hier ist auch ganz interessant als letzter Punkt zu sehen, dass zwar das politische Programm, das jetzt präsentiert wurde, moderate Töne einschlägt, aber die offenbaren Sieger dieser internen Wahlen eher dem radikalen Lager angehören.
    Armbrüster: Marc Frings, der Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ramallah. Vielen Dank für diese Auskünfte und Informationen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.