Dienstag, 23. April 2024

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Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker
Gefühlsbalsam für die Welt

Das Ritual der Neujahrskonzerte, das die Wiener Philharmoniker mitten im Zweiten Weltkrieg begründet haben, wird seit dem 1. Januar 1970 live im Fernsehen übertragen. Die Walzer und Polkas von Johann Strauß bezaubern seither Millionen Zuschauer auf allen Kontinenten.

Von Wolfgang Schreiber | 01.01.2020
    Gustavo Dudamel digirierte das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker am 1.1.2017.
    Gustavo Dudamel dirigierte das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker am 1.1.2017 (dpa-Bildfunk / Herbert Neubauer)

    Johann Strauß, von Beruf Walzer-König, ist der große Klangzauberer, die Symbolfigur wienerischer Eleganz und Leichtigkeit. In seinem Reich herrscht er über die beliebteste Neujahrsmusik der Welt, das Ritual des Neujahrskonzerts der Wiener Philharmoniker - zelebriert im Goldenen Saal ihres Musikvereins, vor fünf Jahren dirigiert von Zubin Mehta. "Die Wiener Philharmoniker und ich wünschen: Prosit Neujahr!"
    "An der schönen blauen Donau" von Johann Strauß, das ist mehr als ein genialer Walzer – inoffiziell die Hymne Wiens, im Grunde ganz Österreichs. Die Dynastie der Strauß-Komponisten hat jenen seligen Reigen der Walzer, Polkas und Märsche geschaffen, womit sich Abermillionen Fernsehzuhörer und -zuschauer in die musikalische Unbeschwertheit begeben - pünktlich am späten Vormittag jeden Jahresbeginns.
    Wienerisch von der Piccoloflöte bis zum Kontrabass
    Das Wiener Neujahrskonzert gibt es schon lang, nach der Okkupation Österreichs durch Nazi-Deutschland wurde es ins Leben gerufen, vielleicht als wienerischer Gefühlsbalsam mitten im Zweiten Weltkrieg. Der Dirigent am 1. Januar 1941 hieß Clemens Krauss, und der "Großdeutsche Rundfunk" machte Propaganda damit. Erst seit dem 1. Jänner (wie die Österreicher sagen) des Jahres 1970 wird das Konzert via Tele-Vision live in fast einhundert Länder auf allen Kontinenten ausgestrahlt.
    Wie das Besondere, das Wienerische dieser Musik hervorzuzaubern ist, wusste natürlich der österreichische Dirigent Nikolaus Harnoncourt ganz genau, der diese so hohe, leichte Kunst nicht nur mit den Wiener Philharmonikern, auch mit den philharmonischen Kollegen in Berlin durchexerziert hat.
    "Wenn ich ein Werk von Strauß in Wien mache, dann habe ich nach fünf Minuten - klingt das wie Strauß, das ist Wiener Folklore, das spürt man", erklärt Harnoncourt. "Die spielen ihre Musik. So fühle ich in den Beinen diese Körperhaftigkeit. In Berlin muss ich das im Einzelnen erklären. In Berlin brauche ich den größten Teil der Zeit, um das Wienerische zu bekommen, aber dann habe ich das wirklich, dann ist wirklich jeder, von der Piccoloflöte bis zum Kontrabass, für diese Minuten Wiener."
    Wiener Philharmoniker suchen selbst Dirigenten aus
    Es sind die Walzer, die Polkas der komponierenden Strauß-Familie, die den Programmen der Wiener Neujahrskonzerte ihre charmante Individualität geben. Und all die Maestri am Pult sind sozusagen wienerisch höchst beschlagen. Die Wiener Philharmoniker haben ja keinen Chef, sie suchen sich ihre Dirigenten in stolzer Freiheit selbst, auch für die Neujahrskonzerte – in den letzten Jahrzehnten abwechselnd dirigiert von Zubin Mehta, Lorin Maazel oder Carlos Kleiber, von Claudio Abbado, Mariss Jansons, Riccardo Muti oder Daniel Barenboim - bis hin zu Andris Nelsons, dem Neujahrskonzert-Debütanten am jetzigen 1. Januar. Sie alle spürten immer ganz genau, wie damals Nikolaus Harnoncourt, wie und was das sein kann, das Wienerische solchen Musizierens:
    "Es wird immer wieder gesagt: eine raffinierte Schlamperei. Das kann man eigentlich von jeder Musik sagen, weil Musik, die nur metrisch präzise ist, ist unmenschlich, das ist nicht in Wien und an keinem Ort der Welt ist die menschlich. Aber jede Gegend hat ihre Folklore, und die kann man eigentlich nur verstehen, wenn man die Sprache spricht."