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Neuregelung des Arzneimittelrechts
"Demenzkranke benötigen einen besonderen Schutz"

Die Bundestagsvizepräsidentin und ehemalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt hat sich im Deutschlandfunk gegen eine Neuregelung des Arzneimittelrechts ausgesprochen, die Medikamententests an Demenzkranken ermöglichen soll. Grund ihres Widerstands: Niemand könne Patienten mit einer Demenz über die Frage aufklären, was möglicherweise in 20 Jahren in einer Studie passieren werde.

Ulla Schmidt im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 11.11.2016
    Porträt von Ulla Schmidt
    Bundestagsvizepräsidentin Ulla Schmidt (dpa / Jörg Carstensen)
    Mit dem neuen Arzneimittelgesetz, das auch Tests an Demenzkranken erlauben soll, werde eine Tür geöffnet, durch die "ich nicht gehen möchte", sagte die ehemalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) im Deutschlandfunk. Niemand könne Patienten mit einer Demenz über die Frage aufklären, was möglicherweise in 20 Jahren in einer Studie passieren werde. Demenzkranke verdienten einen besonderen Schutz, so Schmidt, die heute Bundestagsvizepräsidentin und Vorsitzende der Bundesvereinigung "Lebenshilfe" ist, die sich als Selbsthilfevereinigung, Eltern-, Fach- und Trägerverband für Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Familien versteht.
    Der Bundestag will heute eine Neuregelung des Arzneimittelrechts verabschieden. Diese sieht unter anderem vor, dass Wissenschaftler in Deutschland Medikamententests an Demenzkranken durchführen können, auch wenn diese keinen unmittelbaren Nutzen davon haben. Voraussetzung für diese sogenannte gemeinnützige Forschung ist, dass der jeweilige Patient dies nach einer verpflichtenden ärztlichen Beratung so festgelegt hat.

    Das Interview in voller Länge:
    Tobias Armbrüster: Es ist ein höchst umstrittenes Gesetz, über das der Bundestag da heute abstimmen wird. Es geht um Demenzkranke und die Frage, ob sie als Testpatienten für neue Arzneimittel herangezogen werden dürfen.
    Und zu den Kritikern dieser Reform gehört auch Ulla Schmidt von der SPD, ehemalige Gesundheitsministerin, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags und außerdem Vorsitzende der Lebenshilfe, das ist ein Verband für Menschen mit Behinderung. Schönen guten Morgen, Frau Schmidt!
    Ulla Schmidt: Ja, schönen guten Morgen, Herr Armbrüster!
    Armbrüster: Frau Schmidt, das ist nun ein Gesetz, das unzähligen Demenzkranken in Zukunft helfen könnte. Warum sind Sie dagegen?
    Schmidt: Na ja, wenn das unzähligen Demenzkranken in Zukunft helfen würde, da würden wir anders darüber diskutieren. Aber die Frage ist ja, ob die geltenden Regelungen, die wir zur Forschung nicht ausreichen.
    Und entscheidend ist ja auch, dass in diesem Gesetz, weder in dem Gesetz noch in der Begründung, irgendwo das Wort Demenz vorkommt. Darüber wird immer diskutiert, aber es geht nicht darum, dass Menschen in einem Stadium der Demenz, die an Forschungsvorhaben teilnehmen, dann erklären, ich mache das auch, wenn ich nicht mehr einwilligungsfähig bin, sie haben ja schon die Einwilligung dann gegeben. Sondern es geht darum, dass man eine Tür öffnen will, die wir oder ich zumindest und viele andere mit mir nicht öffnen wollen, das hohe Schutzbedürfnis, dass Menschen, die nicht einwilligungsfähig sind, die nicht mehr selbst entscheiden können, ob sie teilnehmen, und auch nicht mehr selbst entscheiden können, ob sie aus einer Studie aussteigen, dass wir bisher gesagt haben, diese Aufweichung des Schutzniveaus ist nur möglich, wenn auch ein eigener Nutzen erwartbar ist.
    Ob man den hat, kann man nie sagen, aber wenn ein eigener Nutzen erwartbar ist, und noch 2013 hat der Bundestag einstimmig entschieden, dass diese Grundlagen ausreichen, dass Forschung in Deutschland nicht behindert wird. Und auch jetzt in den Anhörungen hat die Mehrheit derjenigen, die auch im Bereich der Altersforschung forschen – ich nenne hier mal den Professor Pantel –, gesagt, ich kann mir keine klinische Forschung vorstellen, die zu wesentlichen Fortschritten führen würde, wenn wir das Gesetz ändern würden.
    Armbrüster: Aber das ist doch eine sehr eingeengte Forschung. Denn wenn man sagt, wir wollen solche Tests nur dann erlauben, wenn tatsächlich auch die Forschungs ... , der Testpatient sozusagen ...
    Schmidt: Es geht um Medikamententests.
    "Was hier geschehen soll, ist eine Abkehr von dem, was wir bei Einwilligungsfähigen haben"
    Armbrüster: ... sozusagen noch einen Nutzen davon hat, dann müsste diese Entwicklung eines neuen Arzneimittels ja sehr rasant vor sich gehen?
    Schmidt: Ja, aber die Forschung gerade bei Arzneimitteln geht doch dahin, in früheren Stadien der Demenz zu verhindern, dass die Demenz sich weiter entwickelt. Und dort setzt doch die Forschung an, dass man sagt, wie kann ich verhindern, dass eine Demenz ins Endstadium kommt. Demenz ist ein langer Prozess, in den wir gehen. Und da können Arzneimittelstudien nämlich in der Anwendung, wie wirken die, wirken die wirklich so wie zum Beispiel die Memantine, die ja auch eine Demenz oder die fortschreitende Demenz ein Stück nach hinten verschieben kann ... Das ist alles heute alles möglich.
    Was hier geschehen soll, ist eine Abkehr auch von dem, was wir bei Einwilligungsfähigen haben. Bei Einwilligungsfähigen, die an medizinischen Studien teilnehmen, haben wir seit dem Nürnberger Kodex und auch der Helsinki-Deklaration auch strenge Vorschriften, dass wir sagen: Bevor ein Proband in eine Studie einsteigt, muss er über den Sinn und Zweck einer Studie, über den möglichen Nutzen, über Risiken, über Belastungen aufgeklärt werden. Und das ist diese Information am Beginn, dann entscheidet der oder die Probandin und dann hat er jederzeit oder sie jederzeit das Recht, aus einer Studie ohne eigenen Schaden wieder aussteigen zu können. Und beides ist nicht gegeben.
    Armbrüster: Sie kritisieren jetzt also, nur damit wir das einmal festhalten, Sie kritisieren, dass diese Einwilligung des Kranken zu einem frühen Zeitpunkt kommt, wo dieser Demenzkranke noch voll bei Bewusstsein ist und sagt, grundsätzlich bin ich damit einverstanden, aber wenn es dann tatsächlich zu den Tests selbst kommt, dann ist er möglicherweise nicht mehr so richtig einwilligungsfähig, aber dann hat er seine Unterschrift bereits gegeben. Ist das korrekt?
    Schmidt: Ja, das ist so, ...
    "Selbst die Deutsche Alzheimergesellschaft sagt, Leute, macht das nicht"
    Armbrüster: Und da würde ich gerne ...
    Schmidt: ... das ist eine Verfügung, die gemacht wird, und dann wird ja dort gesagt, dass, wenn Sie oder ich jetzt ... Könnten wir ja diese Verfügung abgeben, wird ja oft gesagt, wir wollen was für die Allgemeinheit tun. Jetzt beginnt vielleicht in 20 Jahren eine Studie, von der Sie oder ich aber gar nicht wissen, wie es ist. Und es sind ja Belastungen.
    Und es sind ja auch viele Dinge, die nicht so einfach sind auch bei Arzneimittelstudien. Da steht im Gesetzt, dann kann der Betreuer das entscheiden. Aber selbst die Deutsche Alzheimergesellschaft sagt, Leute, macht das nicht. Die geltende Gesetzlage reicht aus, auch Demenzkranke sind besonders schützenswert. Und sie sagt auch, hier wird den Betreuern eine Rolle zugewiesen, die gar nicht ihnen vom Gesetz zusteht, denn die Rolle der gesetzlichen Betreuer ist, dass sie immer nur zum Wohle des Einzelnen, den, den sie betreuen, entscheiden können und nicht plötzlich eine Aufgabe hat, wo sie in einem Konflikt sind, dass sie entscheiden müssen, dient das denn der Allgemeinheit und war das vielleicht vor 20 Jahren von Herrn Armbrüster und von Frau Schmidt so gewollt?
    Und deswegen, wenn mir niemand sagen kann, dass es wirklich einen entscheidenden Nutzen brächte ... wenn das so wäre, könnte man mit Demenzkranken, die ja eine lange Phase haben, wo sie noch einwilligungsfähig sind, könnte man ja mal mit denen reden und sagen: Wollen Sie an Studien teilnehmen, können wir das auch weitermachen, wenn Sie selber nicht mehr Ja oder Nein sagen können – eine sehr zeitnahe Sache. Aber darum geht es gar nicht, sondern hier wird generell geöffnet und die Gefahr besteht – und die sehen auch die Behindertenverbände, die sehen die Kirchen und sehen viele auch Selbsthilfeorganisationen –, dass man sagt, hier wird eine Tür geöffnet und in zwei, drei, vier Jahren kommt jemand und sagt: Das ist doch sehr bürokratisch mit dieser Patientenverfügung, die dort ... Oder diese, das ist ja keine Patientenverfügung, sondern eine Erklärung, die abgegeben wird, wir wissen doch gar nicht, wer die abgegeben hat, können wir das nicht generell öffnen. Und das ist es ...
    Armbrüster: Ja, Frau Schmidt, verzeihen Sie, wenn ich Sie da kurz unterbrechen darf, genau, Sie haben das Stichwort genannt, Patientenverfügung. Das ist ja bereits ein ähnlicher Mechanismus, ein Mensch gibt eine Verfügung ab, eine Erklärung, lange bevor sozusagen der Ernstfall eintritt. Warum ist das ... Und sagt beispielsweise schon vorher, ich will bestimmte Dinge im Zustand des schweren Komas nicht über mich ergehen lassen im Krankenhaus. Warum soll das hierbei anders sein, bei dieser Arzneimittelreform, bei Tests mit Demenzkranken?
    Schmidt: Weil ich dann entscheide ... Ich entscheide hier, was ich am Ende meines Lebens möchte, was mit mir selber gemacht wird, so. Und wir empfehlen immer, bitte redet immer wieder mit den Ärzten darüber, erkundigt euch über den Fortschritt. Aber es gibt Menschen, die sagen, ich will nie an Maschinen hängen. Aber die Frage, was eigentlich in einem Forschungsvorhaben passiert und was dann mit mir passiert, darüber kann mich jetzt niemand aufklären. Weil das Forschungsvorhaben noch nicht da ist.
    "Die Ethikkommission wird nicht im Einzelfall entscheiden"
    Armbrüster: Ja, es gibt allerdings ja einige Kriterien, die da erfüllt sein müssen, diese Reform sieht ja zum Beispiel eine Ethikkommission vor, die das Ganze genau überwacht. Dann dürfen die Studien nur minimal belastend sein und außerdem darf es – auch das gehört dazu – keine kommerziellen Interessen geben. Also, das ist ja schon streng reguliert.
    Schmidt: Ja klar, aber die wird nicht im Einzelfall entscheiden. Und jetzt sage ich mal, wenn dann immer wieder gesagt wird, es geht eigentlich mit der Öffnung nur darum, dass wir Blut abnehmen können, dass wir den Blutdruck messen können, dass wir vielleicht Speichelproben entnehmen können – glauben Sie, dafür muss man ein Gesetz ändern und glauben Sie, dafür muss man wirklich eine Tür öffnen, durch die wir vielleicht nachher nicht gehen wollen?
    Wir haben diese Diskussion gehabt 2004, da ging es damals darum, dass wir die Forschung bei Kindern, Anwendungsforschung bei Kindern zulassen. Das war eine sehr schwierige Debatte, weil man auch damals dann wusste, Kinder sind nicht kleine Erwachsene und Medikamente wirken bei Kindern anders als bei Erwachsenen.
    Armbrüster: Frau Schmidt, bitte noch zwei Sätze, wir haben nur noch eine halbe Minute.
    Schmidt: Oh, Entschuldigung. Und heute kommt man und sagt, ihr habt das bei Kindern zugelassen, dann müssen wir es jetzt auch machen. Nein, die Frage, wie Medikamente wirken, sind bei Einwilligungsfähigen und nicht Einwilligungsfähigen nicht wirklich unterschiedlich und das sagen Ihnen viel auch Forscher.
    Armbrüster: Die Arzneimittelreform heute im Bundestag mit vielen spannenden Fragen. Wir sprachen darüber mit Ulla Schmidt, für die SPD im Bundestag und Vorsitzende der Lebenshilfe. Vielen Dank für Ihre Zeit heute Morgen!
    Schmidt: Bitte schön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.