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Neurobiologischer Mutmacher

Der Mensch betreibt Raubbau am Menschen selbst: Wir folgen den Trampelpfaden der Routine, leiden unter Stress und Angst, haben verlernt, unsere Potenziale zu nutzen. Der Göttinger Hirnforscher Gerald Hüther zeichnet ein schonungsloses Bild unserer Gesellschaft und schlägt ein radikales Umdenken vor.

Von Matthias Eckoldt | 27.10.2011
    Das neue Buch von Gerald Hüther liest sich wie das Manifest eines Epochenbruchs. Es zerfällt, wie für solcher Art programmatische Schriften geläufig, in Bestandsaufnahme und Vision. Im ersten Teil analysiert Deutschlands bekanntester Hirnforscher mit geradezu soziologischer Schärfe die Sackgasse, in die sich die westliche Menschheit seit der Aufklärung hineinmanövriert hat. Für Hüther ist eben jene Konzentration auf die Verstandeskräfte, die Kant einst forderte, ein fataler Irrweg.

    "Mit Hilfe unseres rationalen Denkens ist es uns zwar gelungen, die größten Bauwerke zu errichten, die es jemals auf der Erde gab. Aber die Probleme, die uns das Leben und vor allem das Zusammenleben bereitet, sind in den letzten Jahren eher größer als geringer geworden."

    " Das deutlichste Symptom ist eine eigene Erfahrung, die ich mache. Ich bin ja schon seit vielen Jahren unterwegs und treffe da auch so Wirtschaftsbosse und Politiker. Und ich hab die auch schon vor fünf Jahren immer gefragt, wie es denn so läuft. Und da haben die gesagt: Es läuft schon ganz gut, aber das ist noch nicht effizient genug. Das muss noch verbessert werden. Wenn man die heute trifft, dann sagen die: So wie es jetzt läuft, kann es nicht weiter gehen. Das heißt, Menschen spüren, dass wir an einer Schwelle stehen. Keiner weiß so richtig, wo es hingeht. Und das, was dahinter steckt, ist etwas ganz Einfaches: nämlich dass wir von Ressourcen leben, die begrenzt sind."

    Hüthers Sicht auf den Menschen als Ressourcenausbeuter beschränkt sich nicht auf den Raubbau mit Rohstoffen, der in den letzten hundert Jahren geradezu irrwitzige Züge angenommen hat. Ihm geht es vor allem um den Raubbau am Menschen selbst. Der Göttinger Neurowissenschaftler spricht aus dem Kern seiner Kompetenz, wenn er darlegt, wie verschwenderisch es die Natur mit unserem Hirn gemeint hat und wie jämmerlich wenig wir aus unseren Anlagen machen. Für die zerebrale Entwicklung wird nämlich ein Vielfaches von dem an Nervenzellen und Verschaltungen bereitgestellt, als tatsächlich genutzt wird. Nach der Pubertät erweitert sich interessanterweise das neuronale Spektrum nicht, sondern es verengt sich. Da die Architektur des Hirns in höherem Maße als noch vor Jahren von den Forschern angenommen plastisch – also veränderlich – ist, können sich nur jene funktionalen Netzwerke stabilisieren, die immer wieder aktiviert werden. Jede Form von Routine gräbt Spuren ins Hirn und bringt den Menschen letztlich um das, was ihn zum Menschen gemacht hat. Denn der gravierende Unterschied zum Tierreich besteht in der Freiheit, Dinge für wichtig erachten zu können, die für die eigene Reproduktion keinerlei Bedeutung haben. Im Charakter der gegenwärtigen Erwerbsarbeit, die einen Großteil der menschlichen Existenz ausmacht, steht aber aus der Perspektive des Hirnforschers Routine und Reproduktion im Mittelpunkt.

    "Man lernt irgendwas, man hat irgendwelche Fähigkeiten, und die bietet man einem Arbeitgeber an und dafür wird man dann als Arbeitnehmer eingestellt. Das nennt man dann auch Arbeit. Und dann ist der Sinn der Arbeit, dass man Geld verdient und mit dem erworbenen Geld die Arbeitskraft dann wieder regenerieren kann. Das ist ein ziemlich sonderbares Modell und auch eine ziemlich sonderbare Vorstellung von Arbeit, die vorne und hinten nicht stimmt. Wenn wir jetzt noch mal aus einer biologischen Perspektive auf die Arbeit schauen, dann kann diese Art von Broterwerb unmöglich Arbeit genannt werden. Hirntechnisch ist das eine Pflichterfüllung und eine Duldung eines Zustandes, der gar nicht so sehr gesund ist. Hirntechnisch würde Arbeit zu definieren sein als Entwicklungsarbeit. Also immer dann, wenn man etwas Neues lernt, wenn man neue Fähigkeiten erwirbt, das ist Arbeit, aber nicht, dass man das Erworbene einfach nur anwendet. Das ist die größte Arbeit, die ein Mensch vollbringen kann in seinem Leben, dass er sich selbst entdeckend spielerisch in der Welt bewegen kann."

    So fordert Gerald Hüther eine neue Kultur des Umgangs der Menschen untereinander und mit sich selbst. Aus dem Ressourcennutzer, der sich letztlich zum Opfer hirnloser Routinen degradiert, soll ein Potenzialentfalter werden. Damit geht das Buch "Was wir sind und was wir sein könnten" zum zweiten, visionären Teil über. Die Kapitelüberschriften stehen von nun an im Konjunktiv.

    "Statt Mauern und Gräben könnten wir auch Brücken bauen. Statt uns vom Leben formen zu lassen, könnten wir auch zu Gestaltern unseres Lebens werden. Statt so weiterzumachen wie bisher, könnten wir auch versuchen über uns hinauszuwachsen."

    Die Richtung des Untersuchungsgangs von Gerald Hüther ist klar: Statt in einer Kultur von Wettbewerb, Leistungsdruck, Stress und Angst die Freude am Leben zu verlieren, könnten wir – nach dem Vorbild unserer Kinder – an der Entwicklung unserer Fähigkeiten arbeiten, könnten neugierig sein, uns überraschen lassen und mit offenem Blick in jeden neuen Tag hineingehen. Potenziale sind im Überfluss vorhanden, so sagt uns die Neurowissenschaft, die aufgrund neuerer Erkenntnisse das Hirn als eine permanente Baustelle betrachtet. Die Mittel, auf dieser Baustelle nicht die ausgetretenen Pfade der Routine zu benutzen, sondern neue zu finden, hat nach Hüther jeder Einzelne selbst in der Hand. Das, was wir als Begeisterung empfinden, wirkt im Hirn als eine Art neuronale Gießkanne. Immer, wenn wir uns für etwas begeistern können, werden neue Verbindungen im Gehirn geschaltet – und zwar altersunabhängig. Aus hirnphysiologischer Sicht könnten wir jeden Tag aufstehen und unser Leben ändern. Stellt sich die Frage, was uns davon abhält, das Zeitalter der aggressiven Zurichtung der Welt nach dem ökonomischen Effizienzprinzip der Ressourcenausbeutung hinter uns zu lassen und in die kreative Freiheit hinauszutreten.

    "Es ist nicht unser genetisches Programm, es ist auch nicht der liebe Gott, es ist auch nicht das Erbe aus der Steinzeit, sondern es sind Muster der Art uns Weise, wie wir immer wieder die nachfolgende Generation in unsere eigenen Denkschemata hineinpressen, Denkmuster, Verhaltensmuster. Und aus denen kann man sich so schwer lösen. Damit sie sich auflösen könnten, müssten wir eine andere Art von Kultur haben. Wir müssten eine Kultur haben, in der wir uns nicht gegenseitig in Muster hineinpressen, sondern wir müssten eine Kultur haben, in der wir uns gegenseitig aus Mustern heraushelfen. Also wo wir einander einladen, es auch noch mal anders zu versuchen als bisher."

    Konkreter wird Gerald Hüther nicht. Kann er eigentlich auch nicht werden, ohne gegen seine eigenen Prämissen zu verstoßen. Ein Stufenplan für die Potenzialentfaltung wäre ein Selbstwiderspruch, da er neue Freiheitsgrade mit neuen Vorschriften zu gewinnen versuchte. Hüther hat eine knapp zweihundert Seiten lange Einladung verfasst, nicht so weiterzumachen wie bisher. Sein leichter Stil, zu dem viele eingängige Metaphern gehören an Stellen, wo seine Kollegen oft einschüchternde Krafthuberei mit neuroanatomischen Fachspezifika betreiben, grenzt tatsächlich niemanden aus. Jeder kann den neurobiologischen Mutmacher – so der Untertitel – lesen. Und sollte es tun, damit dem ökonomischen Diktat in Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrisen ein wiedererwachender Möglichkeitshorizont menschlicher Kreativität entgegenleuchtet. Denn Menschen haben sich nicht durch den braven Vollzug der Erwerbsarbeit, sondern durch die Arbeit an sich selbst aus dem Tierreich erhoben. Ein Gedanke, den Hüther übrigens von niemand anderem als Friedrich Engels entlehnt hat.

    Gerald Hüther: "Was wir sind und was wir sein könnten – Ein neurobiologischer Mutmacher"
    S. Fischer, 189 Seiten, 18,95 €