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Neuronales Recycling

Warum lesen Sie diese Zeilen? Stanislas Dehaene hat Antworten auf diese Frage. Der französische Neurowissenschaftler macht sich auf allen Ebenen mit den Phänomenen des Lesens vertraut - angefangen von der Netzhaut bis hin zu den Vorgängen im Affengehirn.

Von Matthias Eckoldt | 10.02.2011
    Für die Babylonier gingen alle magischen Kenntnisse einschließlich der Schrift auf den Gott Ea zurück. In Assyrien verehrte man Nabu, weil er die Menschheit alle Künste und Techniken gelehrt hatte – von der Architektur bis zur Schrift, für die Hindus ist es Ganesha, der Gott der Weisheit mit dem Elefantenkopf: Er brach einen seiner Stoßzähne ab, um einen Bleistift daraus zu machen! Die Bibel liefert einen Nachklang dieser Überlieferung: Gott überreicht Moses handgeschriebene Gesetzestafeln, damit dieser sie an die gesamte Menschheit weitergibt.

    Die verschiedenen Religionsstifter müssen wohl ein untrügliches Gespür für das Wunder der Schrift gehabt haben. Zumindest eröffnet die Analyse der Lesefähigkeit, die Stanislas Dehaene in seinem Buch vorlegt, mit naturwissenschaftlichen Mitteln eben jenen geradezu mythischen Horizont des Staunens wieder, der das Phänomen im religiösen Kontext zur Chefsache werden ließ. Es spricht für den Autor des Buches, dass ihn die langjährige hirnphysiologische Erforschung des Lesens nicht zu einem spröden Wissenschaftler gemacht hat, der routiniert die Bilder seiner Probanden auswertet, die der Magnetresonanztomograph – kurz MRT – von ihrer Hirnaktivität liefert. Nein! Dehaene, Professor für experimentelle kognitive Neuropsychologie am renommierten College de France, versteht es – teils amüsant, teils tiefgründig, teils faktenreich – uns das Alltägliche, nie Hinterfragte in seinen unglaublichen Dimensionen erscheinen zu lassen. Nehmen wir nur das Leseparadoxon: Warum ist unser Gehirn so präzise an das Lesen angepasst, obwohl es doch erst seit etwa fünftausend Jahren überhaupt Schrift gibt? Eine im Evolutionsmaßstab gesehen extrem kurze Zeitspanne:

    Unser Genom hat nicht die Zeit gehabt, sich so zu wandeln, dass es zum Lesen geeignete neuronale Schaltkreise hervorbringen konnte. Unser lesendes Gehirn ist nach jenem genetischen Bauplan gestaltet, der es unseren Sammler- und Jägervorfahren ermöglicht hat, am Leben zu bleiben. Nichts in unserer Evolution hat uns darauf vorbereitet, sprachliche Informationen auch visuell aufzunehmen. Dennoch gibt es beim Erwachsenen Leser hoch entwickelte Mechanismen, die perfekt an die zum Lesen erforderlichen Abläufe angepasst sind.

    Zwischen der ersten Erwähnung des Paradoxons und seiner eleganten Auflösung liegen dreihundertfünfzig Seiten. Auf denen macht Dehaene in eingängiger Sprache und mit beredten Beispielen den Leser auf verschiedensten Ebenen mit den Phänomenen des Lesens vertraut. Angefangen von der Netzhaut. Dort taugt nur ein winziger Teil überhaupt zum Erkennen der Buchstaben. Gerade einmal fünfzehn Grad des Sehfeldes werden von diesen entsprechend hochauflösenden Photorezeptoren abgedeckt, sodass wir nur einen sehr geringen Teil der visuellen Eingangssignale bewusst verarbeiten können. Bei Versuchen am Computerbildschirm, der in einer Zeile beliebig viele Buchstaben schwärzen konnte, zeigte sich, dass wir während des Lesens links gerade einmal vier und rechts fünfzehn Buchstaben fokussieren, während unser Blick fünf Mal pro Sekunde in sogenannten Sakkaden voran hüpft. Im Weiteren geht Dehaene, der mit seinem Team weltweit führend auf dem Gebiet der bildgebenden Verfahren für neuronale Prozesse ist, ins Hirn hinein.

    Mit dem MRT lässt sich bei beliebigen lesekundigen Probanden in wenigen Sekunden zeigen, dass geschriebene Wörter in der linken Schläfenregion im Hinterhaupt eine lebhafte Aktivität auslösen. Anders gesagt: Wir alle lesen mit dem gleichen Hirnschaltkreis.

    Und das – erstaunlicherweise – unabhängig von der jeweiligen Sprache. Dehaene konnte beweisen, dass selbst bei chinesischen Schriftkundigen zum Lesen derselbe neuronale Schaltkreis benutzt wird. Wenn die Kunde von einem bekannten Wort eintrifft, geht vom Lesezentrum eine Art Flutwelle los, die Millionen von Neuronen bis in die entferntesten Hirnregionen zum Schwingen bringt. Ein unbekanntes Wort oder eine Nonsensabfolge von Buchstaben löst übrigens nicht das geringste Echo in den Neuronen aus.

    Durch die Möglichkeit bildgebender Verfahren fächert sich eine gewaltige Palette neuer Forschungsfelder auf, da man nun nicht mehr unbedingt auf die Kooperation des Probanden angewiesen ist. Waren in den Anfängen der Leseforschung – wie der Hirnforschung überhaupt – Menschen mit cerebralen Ausfällen infolge von Krankheiten die begehrten Untersuchungsobjekte, kann heute dank MRT jedes Gehirn das Erkenntnisinteresse der Wissenschaftler auf sich ziehen. Auch das eines Affen. Dehaene berichtet von Experimenten, die ergaben, dass Makaken über ein Formenalphabet verfügen, das unseren Buchstaben T, F, Y und O ziemlich genau entspricht. Dehaene folgert:

    Die meisten dieser Formen haben wir nicht erfunden, sie lagen Millionen Jahre in unseren Gehirnen bereit und wurden nur wiederentdeckt, als wir das Schreiben und das Alphabet erfanden.

    Um das Leseparadoxon aufzulösen, führt Dehaene den Terminus des "Neuronales Recyclings" ein, demzufolge unsere Gehirne nicht von einem allmächtigen Baumeister so verkabelt wurden, dass wir plötzlich sein Buch lesen konnten, sondern für die Erlangung der Lesefähigkeit wurden Hirnbereiche in Anspruch genommen – also recycelt – die ursprünglich für andere Funktionen entwickelt worden waren.

    Das Lesen selbst hat Formen ausgebildet, die unseren Schaltkreisen angepasst sind. In mehreren Tausend Jahren von Versuch und Irrtum sind alle Schriftsysteme zu ähnlichen Lösungen konvergiert. Alle stützen sich auf einen Satz einfacher Zeichen, den die linke Schläfenregion im Hinterhaupt ohne übermäßige Probleme erlernen und mit den Sprachbereichen verknüpfen kann. Die Schriften sind so weitgehend optimiert, dass sie innerhalb weniger Jahre die neuronalen Schaltkreise des Leseanfängers besetzen können.

    Aus den sich durch unsere Hirnstrukturen ergebenden Begrenzungen hat sich durch eine Erfindung zur externen Speicherung von Erfahrungen die Lesefähigkeit entwickelt. Niemand, weder Gott noch die Evolution, wollten, dass wir lesen können. Dehaene hat mit seinem Buch über die hirnwissenschaftliche Analyse des Lesens ein Grundlagenbuch geschrieben, dessen Stärke darin besteht, dass es auch der oft bemühte "interessierte Laie" mit Gewinn zur Kenntnis nehmen kann. Dafür sorgt nicht nur ein gut achtzigseitiger Anhang voller Abbildungen des Hirns, Schemata von Formenerkennungen, bunter MRT-Bilder neuronaler Strukturen im Erregungszustand und Diagrammen, die jene fürs Lesen wichtigen Relationen übersichtlich ins Verhältnis setzen. Auch Dehaenes Stil ist leserfreundlich. Geschickt verbindet er wissenschaftliche Erörterung mit der plastischen Schilderung von Experimenten und amüsanten Episoden aus der Geschichte der Leseforschung.

    Leider vergaloppiert Dehaene sich im letzten Kapitel des Buches ein wenig, wenn er seinen Begriff des neuronalen Recyclings zu einem neuen Paradigma für die Erforschung der Kultur ausruft. Für jede menschliche Aktivität, so seine Vision, wird nach dem Vorbild seiner Leseanalysen ein entsprechender Ablauf im Gehirn gefunden werden. Das Ziel eines derartigen Mammutprojektes soll es sein, die neuronalen Grenzen zu verstehen, die prinzipiell kulturelle Erfindungen eingrenzen. Das mag eine wirkungsvolle Forderung in Projektanträgen für universitäre Drittmitteleinwerbung sein, am Ende eines solchen Buches wirkt sie jedoch ein wenig anmaßend. Ebenso wenig inspirierend ist die abschließende Schulschelte des Neuropsychologen, der auf anderthalb Seiten eine andere Art des Lesenlernens fordert, ohne selbst ein Konzept vorzulegen. Allerdings vermögen diese kleinen Wermutstropfen gen Schluss nicht den ausnehmend positiven Gesamteindruck zu trüben.

    Stanislas Dehaene: "Lesen: Die größte Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen passiert". Knaus Verlag. 448 Seiten. 24,99 Euro.