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Neurowissenschaften
Human Brain Project noch weit von den Zielvorgaben entfernt

Das Human Brain Project hat von Anfang Ärger auf sich gezogen. Im Sommer unterschrieben namhafte Neuroforscher einen Protestbrief an die EU, auch innerhalb des Projekts knirschte es. Die Konsequenz: Die EU-Kommission, die das Projekt mit 600 Millionen Euro finanziert, forderte spürbare Änderungen am Konzept. Über die Forschung im Projekt wurde vor lauter Streit kaum noch gesprochen. Wie weit sind die Forscher im ersten Projektjahr gekommen und wie weit sind sie noch von ihren eigenen Zielvorgaben entfernt?

Von Katrin Zöfel | 19.11.2014
    Das Modell eines menschlichen Gehirns
    Das Modell eines menschlichen Gehirns (dpa / picture alliance / Weigel)
    Wenn Egidio d'Angelo über Nervenzellen nachdenkt, spielt Biologie für ihn kaum eine Rolle. Ihn interessieren die elektrischen und chemischen Signale, über die eine Nervenzelle Informationen empfängt und weitergibt.
    "Ich will nicht alles, was wir wissen, in unsere Modelle packen. Ich will ein Modell, das einfach nur die Spikes einer Nervenzelle, also die elektrischen Signale sauber abbildet."
    Egidio d'Angelo von der Universität Pavia entwickelt Computermodelle, die helfen sollen zu verstehen, wie unser Gehirn funktioniert. Bisher beschränkt er sich auf das Gehirn einer Maus, genauer gesagt auf ihr Kleinhirn. Doch das Ziel ist ein Modell des menschlichen Gehirns, ein Modell, das zwar nicht alle biologischen Details abbildet, wohl aber jede einzelne Nervenzelle, ihre Position relativ zu anderen Zellen, und ihr Verhalten im Netzwerk.
    "Das Netzwerk ist aus sehr, sehr vielen kleinen Elementen aufgebaut, die miteinander interagieren. Wenn wir genau genug verstehen, wie die Nervenzellen und ihre Kontaktstellen, die Synapsen, funktionieren, können wir dieses Netzwerk als Modell nachbauen. Wenn all die kleinen Elemente dann zusammen wirken, ergeben sich daraus plötzlich neue Eigenschaften, die nur das Netzwerk hat und nicht jedes einzelne Element für sich."
    Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile, um zu verstehen, wie das geht, schlägt Egidio d'Angelo vor, das ganze komplexe System des Gehirns einfach Teil für Teil nachzubauen. Die Hoffnung: Auch ohne Verständnis für die Prozesse könnte das am Ende so gut funktionieren, dass die Forscher anhand des Modells lernen können, wie das Gehirn - scheinbar aus dem Nichts heraus - bestimmte Eigenschaften bekommt.
    "Ich meine Eigenschaften wie Denken, Emotion, Verhalten, Bewegung, Wahrnehmung, all diese Dinge. Wir nennen das emergente Eigenschaften."
    D'Angelo nutzt bei seiner Arbeit Algorithmen, die im Blue Brain Project entwickelt wurden, also im Vorgänger des Human Brain Projects. Das sei ein unschätzbarer Vorteil: Die Algorithmen seien so weit entwickelt, so akkurat und effizient, und die Supercomputer, die das Human-Brain-Projekt bereitstellen könne, seien so leistungsfähig, dass er sein Modell in sehr kurzer Zeit um entscheidende Schritte voranbringen konnte, sagt er, viel schneller als bisher. Ohne ein Großprojekt wie das Human-Brain-Projekt sei solche Forschung gar nicht zu machen. Das ist die Botschaft, die die Macher des Projekts im Moment verbreiten wollen: man mache große Fortschritte, die schließlich dem ganzen Forschungsfeld nutzen werden. Doch davon ist längst nicht jeder Kollege überzeugt.
    "Was sie da präsentieren, ist im Grunde nur ein sehr, sehr kleiner Schritt auf dem langen Weg, bis wir verstanden haben, was das Hirn tut."
    Tim Behrens ist Hirnforscher an der Universität Oxford in Großbritannien. Auch er hat den Protestbrief im Sommer unterzeichnet, in dem das Human-Brain-Projekt scharf kritisiert wurde. Behrens favorisiert eine andere Herangehensweise als der Forscher aus Italien:
    "Man kann entweder, wie hier beschrieben, versuchen alle kleinen Teile nachmodellieren. Oder man kann versuchen, nur das zu modellieren, was wirklich wichtig ist für die Frage, die man gerade klären will."
    Das sei in etwa, wie wenn man für ein Auto-Modell jede Schraube und jeden Bolzen nachbaue, oder eben, wie bei einer Seifenkiste, nur ein Brett mit vier Rädern daran. Letzteres reiche zum Beispiel aus, um zu verstehen, warum der Schwerpunkt nah am Boden liegen muss, damit das Auto in einer Kurve nicht umkippt. Beide Verfahren haben, betont Behrens, ihre Berechtigung. Doch das Human-Brain-Projekt setzt nur auf eines von beiden, und sei damit sehr einseitig angelegt. Ob die ersten Ergebnisse, die jetzt als große Erfolge verkauft werden, am Ende wirklich zu mehr Erkenntnis führen, könne noch keiner wirklich abschätzen. Dafür sei es schlicht noch zu früh.