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Neutrino-Revolver

Physik. - Es ist das häufigste Teilchen im All und zugleich das unauffälligste – das Neutrino, doch kaum eines tritt in Kontakt mit Materie. Gerade wegen seiner Flüchtigkeit gibt das Neutrino den Physikern immer wieder Rätsel auf. So ist nach wie vor unklar, inwieweit sich Neutrinos unterschiedlicher Sorten ineinander umwandeln können. Diese Frage soll nun ein aufwändiges Experiment beantworten helfen. Es beginnt in diesen Tagen am Europäischen Teilchenforschungszentrum Cern in Genf.

Von Frank Grotelüschen | 11.10.2007
    Eine Experimentierhalle des Cern in Genf. Die Physikerin Edda Gschwendtner steht vor einem Metallklotz, der fast so groß ist wie ein Lieferwagen. Dann zieht sie die Plastikfolie zurück, die den Klotz vor Staub schützt. Erst jetzt erkennt man die genaue Form. Gschwendtner:

    "Das Ganze ist angeordnet wie ein Revolver, wir nennen es auch Magazin. Wir können das einfach rotieren."

    Doch scharf geschossen wird mit dem Riesenrevolveraus Genf nicht. Ganz im Gegenteil: Ein kilometergroßer Beschleuniger feuert Wasserstoffkerne in den Revolver hinein. Dort treffen die Kerne auf ein Stäbchen aus Graphit, nicht größer als ein Streichholz. Ist das Stäbchen nach einer Weile zerschossen, dreht die Revolvertrommel weiter, und das nächste Stäbchen ist dran. Der ganze Aufwand dient dazu, eines der merkwürdigsten Elementarteilchen der Physik zu erzeugen – das Neutrino. Merkwürdig deshalb, weil Neutrinos zwar in Massen durchs Weltall schwirren, gleichzeitig aber flüchtig sind wie Geister. Denn mit Materie interagieren Neutrinos so gut wie gar nicht, sagt Gschwendtner.

    "400.000 Milliarden Neutrinos treffen auf der Erde auf und gehen durch unseren Körper. Allerdings interagieren von diesen 400.000 Milliarden Neutrinos nur eines in unserem Körper in 100 Jahren."

    Nun gibt es die Winzlinge in drei verschiedenen Sorten. Ihre Namen: Elektron-Neutrino, Myon-Neutrino und Tau-Neutrino. Nur zögernd geben sie ihre Geheimnisse preis: So weiß man erst seit zehn Jahren, dass die Geisterteilchen überhaupt eine – wenn auch extrem kleine – Masse besitzen. Und genau das fasziniert Edda Geschwendtner.

    "Wenn die Neutrinos Masse haben, haben sie eine ganz interessante Eigenschaft. Und zwar nennt sich die Teilchen-Oszillation. Was da passiert: Die Teilchen ändern ihre Identität."

    Das bedeutet: Neutrinos verschiedener Sorten können sich im Fluge ineinander umwandeln, etwa vom Typ Myon zum Typ Tau. Um genau diesen Prozess zu studieren, schießen die Physiker Wasserstoffkerne auf das Graphitstäbchen in dem überdimensionalen Revolver. Beim Aufprall entstehen Teilchen namens Pionen, die einen Wimpernschlag später in die gewünschten Neutrinos zerfallen, in Myon-Neutrinos. Die Anlage ist so aufgestellt, dass die Neutrinos 730 Kilometer weit nach Italien fliegen, zum Gran-Sasso-Massiv in den Abruzzen. Dort, gut geschützt in einer riesigen Höhle, wartet Opera. Ein Detektor hoch wie ein Haus. Er soll nachschauen, ob neben Myon- auch Tau-Neutrinos in Italien ankommen. Das wäre der erste direkte Beweis für die Oszillationen. Denn die Tau- können nur durch Umwandlung der Myon-Neutrinos entstanden sein.

    "The basic difficulty of the experiment is the following”,"

    sagt Gaston Wilquet, Physiker an der Freien Universität Brüssel:

    ""Die wesentliche Schwierigkeit bei Opera ist die folgende: Neutrinos interagieren extrem selten mit Materie. Darum müssen wir ihnen, um sie aufzuschnappen, eine Riesenmenge an Materie in den Weg stellen. Und deshalb ist unser Detektor groß wie ein Haus und wiegt 1500 Tonnen."

    Trotz seiner Ausmaße muss der Riese hochpräzise arbeiten, bis auf ein paar Mikrometer genau. Deshalb besteht er aus 200.000 Einzelsensoren. Wilquet:

    "Jeder Einzelsensor besteht aus 56 millimeterdicken Bleiplatten. Zwischen diesen Platten stecken fotografische Filme. Manchmal dürfte ein Tau-Neutrino mit einer der Bleiplatten wechselwirken. Dabei entsteht ein so genanntes Tau-Teilchen. Dieses Tau-Teilchen fliegt dann durch den Fotofilm und belichtet ihn. Doch das passiert äußerst selten. Insgesamt erwarten wir über einen Zeitraum von fünf Jahren vielleicht 15 Ereignisse. Im Durchschnitt dürften wir also nur alle vier Monate ein Ereignis registrieren."

    Zurzeit nehmen Wilquet und seine Leute die ersten Daten. Mit Glück könnte ihnen das erste Tau-Neutrino noch in diesem Jahr ins Netz gehen. Aber: Es gibt auch Skeptiker. Und diese Skeptiker meinen, dass Opera gar keine Tau-Neutrinos sehen wird, weil nämlich die Flugstrecke von 730 km viel zu kurz sei, als dass sich die Teilchen verwandeln könnten. Und behalten diese Kritiker Recht, wäre ein dreistelliger Millionenbetrag glatt in den Sand gesetzt.