Freitag, 19. April 2024

Archiv


New York - Die illustrierte Geschichte von 1609 bis heute

Die Dämmerung kommt rasch, und die große Stadt mit ihrem unfassbaren Vorwärts- und Aufwärtsdrang funkelt vor deinen Augen, ein Vorhang sternenbestückter Türme, jetzt übersät mit dem Diamantenstaub einer Million Lichter. Dahinter die Sonne untergegangen, das rötliche Licht des schwindenden Tages tanzt auf dem Fluss - und du siehst die Boote, die Frachtkrähne und Schlepper vorbeiziehen unter den eleganten, vogelschwingen-gleichen Bögen der Brücken-, und schon ist die Nacht da, und dich erfasst eine glühende unstillbare Sehnsucht, für die du keine Worte findest.

Martina Groß | 26.09.2002
    Als Thomas Wolfe die Stadt New York 1933 mit diesen Worten umwirbt, da sind 324 Jahre vergangen, seitdem Henry Hudson die indianische Insel Mana-hatta entdeckte, das 1624 für ein paar Gulden in holländischen Besitz überging. Der Architekturkritiker James Sanders:

    Es wurde von der Niederländisch-Westindischen Kompanie gegründet, andere Kolonien in Nord-Amerika wurden von religiösen Gruppen gebildet. (...) New York war anders. Es war nicht nur eine einzelne andere Religion, sondern es basierte auf der Idee einer kommerziellen Kolonie ohne wirkliche religiöse Bedingungen. Das konnten sie sich nicht leisten, sie brauchten dort einfach Leute zum arbeiten.

    Der Architekturkritiker und - neben Ric Burns und Lisa Ades - einer der drei Autoren des Buches "New York - Die illustrierte Geschichte von 1609 bis heute". Vom ersten Tag an, so die Autoren, hatte es eine enge Beziehung zwischen Wirtschaftskraft und Multikulturalität gegeben zwischen den beiden Polen, die man im 19. Jahrhundert Kapitalismus und Demokratie nennen sollte. 1644 - 20 Jahre nach Gründung der Kolonie New Amsterdam konnte man hier 18 verschiedene Sprachen hören:

    Direkt von Anfang an gab es dieses unglaubliche Bedürfnis, den kommerziellen Motor am Arbeiten zu halten. Als Nebenprodukt gab es diese menschliche Vielfalt; mehr als das, eine aus der Not geborene Akzeptanz anderer Menschen. Man arbeitete Seite an Seite zusammen. Man musste nicht miteinander befreundet sein. Man musste sich nicht mögen und einander zustimmen. Ganz bestimmt musste man sich gegenseitig keine Gewalt antun. Warum sollte man? Man arbeitete zusammen. Ein unglaubliches Model für eine neue Art von Kultur. In vielerlei Hinsicht sehr rau, manchmal sehr brutal, aber auch eine Vision wie unterschiedliche Leute zusammen kommen können. Das zieht sich durch, nur spricht man jetzt nicht mehr von ein paar Leuten, sondern Zehntausenden, Hunderttausenden die kommen. Und es war nicht mehr eine kleine kommerzielle Kolonie, sondern es entstand die kommerzielle Hauptstadt der westlichen Welt im 19ten Jahrhundert.

    Sieben Jahre dauerte die Recherche für das ambitionierte Vorhaben, die Geschichte New Yorks in all ihren Facetten erzählen zu wollen. Es entstand zuerst eine sechsteilige Fernsehserie -dann das opulent ausgestattete Buch, das mit vielen Drucken, Plänen, Faksimiles und bisher unbekannten Fotos ein Panorama New Yorks aufgeblättert. Einer Stadt, die ihre Vergangenheit immer wieder selbst ausgelöscht und sich im selben Atemzug neu erfunden hat. In sieben Kapiteln verknüpfen die Autoren die Faktoren, die die Stadt zu der Metropole schlechthin des 20. Jahrhunderts machten, zu einer großen Erzählung. Eingeflochtene Portraits von Menschen, die der Entwicklung der Stadt immer wieder neue Impulse gegeben, sie mit gestaltet und geprägt haben, geben der Geschichte viele indivduelle Gesichter und Stimmen: Beispielsweise Walt Whitman. Der schrieb im April 1842:

    Wer könnte daran zweifeln, dass unsere Stadt der bedeutendste Ort des westlichen Kontinents ist - das Herz, der Kopf, die Mitte, der Ursprung der Neuen Welt - der Gipfel, das Äußerste, die Grenze des Vorstellbaren.

    Von Anbeginn an hatten die Autoren das Gefühl, dass sie in der Geschichte der Stadt New York mehr entdecken könnten als nur die Geschichte der Stadt New York. James Sanders:

    Wir hatten das Gefühl, dass diese Geschichte all die anderen Geschichten entwirren würde. Es würde eine Geschichte über Amerika werden, eine Geschichte darüber wie moderne Städte, nicht nur in Amerika, sondern in der ganzen Welt entstanden sind. Es ist mehr als nur die Geschichte eines einzigen Ortes. Es wurde die Entdeckung einiger der wichtigsten Themen und Ideen im amerikanischen und modernen Leben.

    Die Stadt spiegelt in ihrem Mikrokosmos all die Kontraste unseres modernen Lebens wider - im Guten wie im Schlechten. Hier finden wir breite Prachtstraßen oder wunderschöne Parks als Meisterwerke der Landschaftsarchitektur, aber wir begegnen auch stinkenden Gassen, deren fauliger Abfall die Luft verpestet; hier protzen palastähnliche Villen mit allem nur erdenklichen Luxus während dort Männer, Frauen und Kinder in strengster Armut leben.

    New Yorks Geschichte ist die Geschichte von Gegensätzen, von Licht und Schatten. Einerseits ein sich gegenseitig bedingender - scheinbar -unendlicher Wachstum und Wandel. In dem sich Menschen, Ideen und technischen Neuerungen des 19ten und 20ten Jahrhunderts konzentrierten: Zeitschriften, Radio und Fernsehen, neue Formen der Kommunikation, der Freizeitgestaltung. Eine Kultur, die von New York aus ihren Siegeszug über den nordamerikanischen Kontinent und weit darüber hinaus antrat. Andererseits konzentrierten und konzentrieren sich hier immer noch die Probleme der Moderne, der Globalisierung: Armut und Katastrophen. Sanders:

    Das beste Argument dafür, dass New York eine Art Hauptstadt der Welt ist, ist, dass es der Ort ist, an dem sich die Aufgaben und Probleme und vielleicht die Lösungen der modernen urbanen Weltkultur, in die wir uns so schnell hinein bewegen, hier über 150 Jahre am längsten und intensivsten erforscht wurden. Heute ist es noch intensiver. Natürlich könnte man sogar sagen, dass die Ereignisse des 11. September das auf eine schreckliche Art veranschaulicht haben. Das ist für uns alle ein neues Problem.

    für die deutsche Ausgabe des 1999 im Original erschienenen Buches wurde aufgrund der Ereignisse am 11. Septembers ein Epilog hinzugefügt.

    Das 600-Seiten dicke Buch ist auch eine Liebeserklärung an New York und seine Bewohner, die immer wieder aus Katastrophen gestärkt hervorgegangen sind.

    Aber wo Licht ist, gibt es auch Schatten: Die manchmal unnötig reißerischen Beschreibungen und voreiligen Schlussfolgcrungen: Etwa wenn von der Brandkatastrophe 1911 in einer Textilfabrik, bei der 149 Frauen starben, berichtet wird, dass man "Dutzende von Leichen - verkohlte, kopflose Torsi, einige noch immer über die Nähmaschinen gebeugt", fand. Oder das Fazit aus den Tumulten von 1863, die sich hauptsächlich gegen die schwarzen Einwohner New Yorks richteten: "Die Stadt gehörte nun zum Kreis der Weltmetropolen.

    Paris und London etwa hatten im späten 18. Und frühen 19. Jahrhundert ihre sozialen Revolutionen erlebt, und jetzt durchzog auch New York eine Blutspur - es war in die Jahre gekommen". An solchen Stellen mischen sich Mythos und Realität, wird eine Objektivität zugunsten einer Dramatisierung der Erzählung aufgegeben. Das ist schade, denn die Geschichte New Yorks ist wirklich spannend.

    Stille? Was kann New York - das laute, polternde, stürmische, turbulente New York - mit Stille zu tun haben? Inmitten des allgegenwärtigen Lärms, der nie endenden Geschäftigkeit, des alles verschlingenden Geldstrudels - wer sollte da auch nur die geringste Vorstellung von wirklicher Ruhe haben... von Stille?

    Walt Whitman hat sich geirrt, die Autorin Julia Solls, hat die Orte der Stille, - vergessene Orte - in New York gesucht und gefunden. Dafür ist sie in den Untergrund hinunter gestiegen:

    Mich reizt vor allem daran, dass in ner Stadt, die sehr hektisch ist und sehr chaotisch, dass es dort Räume gibt und Schächte und lange Tunnel, die völlig unberührt sind von irgend jemand, wo niemand hinkommt, wo die Zeit einfach stehengeblieben ist. Das hat mich eigentlich sehr überrascht solche Orte vorzufinden und immer wieder neu zu entdecken. Also dass ich über die Jahre hinkommen kann und sehe, dass sich überhaupt nichts verändert hat dort und dass es dort unheimlich einsam ist.

    Unter der Oberfläche New Yorks liegt ein für die meisten Bewohner unsichtbares System, das die Stadt am Leben erhält. Julia Solis bringt Licht in die unterirdischen Lebensadern und beschreibt die Geschichte der Stadt anhand ihrer unterirdischen Bauten. Während die Vergangenheit oberirdisch ständig durch Neues, Größeres ersetzt wird, stößt man im Untergrund immer noch auf historische Spuren und ungelöste Rätsel:

    In New York fand ich es sehr faszinierend, dass über den Untergrund bis jetzt sehr wenig bekannt ist, vor allem in der Stadt. Das letzte Buch, das darüber geschrieben wurde, über die Architektur des Untergrunds erschien 1978 und das war veraltet und seitdem hörte man nur über die Obdachlosen immer und wer da unten wohnt, aber von der Architektur her und von den Räumen selbst hatte man nur sehr wenig gehört und es gab keinen richtigen Überblick darüber. Deswegen hat es mich sehr interessiert, das selbst zu erforschen.

    Seit Jahren begibt sich die 1964 in Hamburg geborene Autorin in den New Yorker Untergrund: Vieles in Vergessenheit geratene, ist neu zu entdecken: Die technischen Meisterleistungen des vergangenen Industriezeitalters: Die erste U-Bahn New Yorks, dessen Erfinder Alfred Beach sich die Neuerungen des Rohrpostsystems zunutze machen wollte und in einer 58-tägigen Nacht-und-Nebel-Aktion eine pneumatische U-Bahn samt Tunnel baute, und eine Wartehalle von legendärer Opulenz, die mit Springbrunnen, Kronleuchtern, Klavier und Gemälden ausgestattet war. Beachs Träume zerplatzten im Börsencrash von 1873. Erst 1912 stießen Arbeiter beim Bau einer U-Bahn-Station auf Beachs Hinterlassenschaft. Die Wartehalle wurde bis heute nicht gefunden. Auch das labyrinthisch-verzweigte U-Bahn-System gibt es immer noch zu entdecken. Beispielsweise die Geheimnisse der Grand Central Station,

    Wo selbst die Arbeiter nicht genau wissen wie tief und wie lang und woher und seit wann bestimmte Sachen existieren. Warum das so ist, weiß ich auch nicht. Warum das da keine Übersicht gibt. Also man hat, man kann sich da schon einiges selbst zusammenstellen und das finde ich auch gut, dass es immer noch eigentlich große Rätsel gibt im New Yorker Untergrund, selbst wenn man Experten fragt, dann streiten die sich darüber, was da wohl war und wo das war, wo das sich abgespielt hat. Das finde ich auch ganz faszinierend, weil man sich seine eigenen Geschichten ausdenken kann.

    Solis erzählt nicht nur die Geschichten des New Yorker Untergrunds, sie räumt auch mit den Mythen auf. Beispielsweise dem sich hartnäckig haltenden Gerücht von Alligatoren in der Kanalisation. Ein einziger Alligator hatte sich 1953 darin verirrt. Trotzdem, die Entdeckung des Untergrundes ist nicht ungefährlich.

    Man muss auch drauf achten, wenn man irgend einer Person begegnet, dass man sich richtig verhält. Also es wohnen da ja auch Leute da unten und man muß da psychologisch ein bisschen fit sein und nicht irgendwie was Blödes sagen oder sie blöd ansprechen. Also ich hatte, also von der Einsamkeit und der Faszination abgesehen, die mich da immer wieder runterziehen gibt es eigentlich keine große Angst, das ist dann eben nur vor den anderen Leuten.

    "New York Underground - Anatomie einer Stadt" ist kein Buch über die inzwischen zu trauriger Berühmtheit gelangten Mole People, die sich in den Untergrund der Stadt zurückgezogen haben. Es ist vielmehr ein Buch, das vergangene und gegenwärtige Stadtgeschichte seiner Vergessenheit entreißt und zusammenführt und oftmals ein Bericht der ungewöhnlichen Entdeckungen aus einer anderen - gar nicht so weit entfernten - Welt.