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New York
Elternzeit im Big Apple

Wer Elternzeit hört, denkt an den Spielplatz um die Ecke, Krabbelgruppentreffen und Termine beim Kinderarzt. Doch man kann die Elternzeit auch anders nutzen - zum Beispiel, indem man mit Kind und Kegel einen Monat in New York verbringt.

Von Carola Hoffmeister | 16.02.2014
    Als wir mit dem Kinderwagen vor unser Haus in Harlem treten, eilt eine Nachbarin in einem leuchtend bunten Kaftan heran. Sie beugt sich über den Wagen. Unsere Tochter Ylvie, kahlköpfig, tiefbraune Augen und Rettungsringe an Armen und Beinen ist sechs Monate alt. Sie lächelt. Wann immer wir der Nachbarin zufällig begegnen, schäkert sie mit Ylvie und erzählt von ihren vier inzwischen erwachsenen Söhnen.
    Situationen wie diese erleben wir immer wieder in New York. Der Supermarkt-Kassierer zeigt uns Handyfotos von seiner Enkelin. Die Ticket-Verkäuferin in Harlems legendärem Jazz-Club Apollo-Theater gibt uns Rabatt, weil sie Ylvie so süß findet. Im Museum of Modern Art versammeln sich fast mehr Leute vor unserem Kinderwagen als vor Van Goghs Sternennacht.
    Unsere kleine Tochter ist wie ein "Sesam-Öffne-dich" – und das, obwohl wir nur Gast in New York sind, kaum mehr als Touristen. Mein Mann und ich verbringen unsere Elternzeit im Big Apple. Ein letztes Großstadtabenteuer, bevor wir Sandburgen in Dänemark bauen. "Für mich geht es auch ein bisschen auf, dass wir New York nicht nur als Vier-Tages-Touristen erleben wollen, sondern, dass wir ein bisschen tiefer gehen und erleben, was es heißt, in New York zu leben."
    Über Craigslist, eine Internetseite mit Kleinanzeigen, haben wir eine Wohnung in Harlem gefunden. Sie befindet sich in einem Block mehrstöckiger Rotklinker-Bauten mit schwarzen Feuerleitern, direkt neben einem kleinen Park, in dem Jugendliche Basketball spielen. Wir haben sie zur Zwischenmiete von Marina übernommen, einer alleinerziehenden Mutter. Einen Monat lang übernachten wir in Marinas Bett, kochen auf ihrem Gasherd Süßkartoffel-Baby-Brei und lassen Ylvie mit der Rassel der Tochter spielen. Am Kühlschrank klebt ein Zettel: Macht einen Ausflug ins Stroller-Land – ins Kinderwagen-Land in Park Slope, schreibt Marina.
    "Heute fahren wir nach Park Slope, um zu sehen, wie hier die Mütter unterwegs sind mit ihren Kinderwagen." - "Und Väter!" - "Und Väter natürlich. Wir haben gehört, dass Park Slope, das ist ein Stadtteil in Brooklyn, dass das das Prenzlauer Berg Viertel von New York sein soll. Die Sonne scheint, es ist nicht zu heiß, nicht zu kalt. Auf geht's!"
    An fast allen Metro-Stationen gibt es Fahrstühle, und so gelangen wir mit dem Kinderwagen bequem durch Manhattan nach Park Slope in Brooklyn. An der siebten Avenue fühlen wir uns tatsächlich an das hippe Berliner Künstlerviertel Prenzlauer Berg erinnert: Sanierte Altbauten glänzen in der Mittagssonne, Gemüseläden werben mit dem Label Organic, und gut gestylte Mütter schieben ihre Kinder in McLaren-Buggys vor sich her.
    In einer baumgesäumten Seitenstraße reihen sich Brownstones aneinander, die typisch amerikanischen Häuser aus rostroten Sandsteinen. Flauschig blühen Hortensien hinter schmiedeeisernen Zäunen. Ein Townhouse mit drei Stockwerken und verschachteltem Erker steht zum Verkauf:
    "Das wird gerade renoviert. Komm, wir gucken mal, ob wir was sehen."
    In Gedanken kratzen wir bereits unsere Dollar zusammen. Da bleibt eine Frau Anfang 30 stehen und guckt in den Kinderwagen. Wohnt sie hier, frage ich. Die Eltern leben hier, aber sie selbst könnte es sich nicht leisten, denn Park Slope ist teuer geworden, erzählt Shania. Viele Leute aus der weißen Mittelschicht kaufen Immobilien in dem Stadtteil, der den Charme eines Dorfes hat und dennoch nur zehn Minuten mit der Bahn von Manhattan entfernt liegt. Unser Lieblingshaus würde schätzungsweise bis zu sechs Millionen Dollar kosten. Schnell weiter in den Prospect Park! Dort breiten wir eine Decke aus und lassen Ylvie an Grashalmen zupfen.
    Am nächsten Tag stehen wir auf einem weitläufigen Platz an der Upper West Side und blicken auf ein Gebäude mit hohen Bogenfenstern. Im Foyer warten bereits Damen und Herren in Abendgarderobe. Auch Ylvie trägt ein schickes Trägerkleidchen:
    "Das ist jetzt das Experiment. Wie wird sie es in einem geschlossenen Opernsaal aushalten. Und das ist ja nicht irgendeiner, sondern die MET, die Metropolitan Opera. Aber wir haben eine Nachmittagsvorführung, insofern können wir Glück haben, dass sie vielleicht einschläft, oder dass ihr die Musik so gefällt, dass sie ruhig ist."
    Mit den Karten für Tschaikowskys Dornröschen sind wir das einzige Pärchen mit Baby, aber viele kleine Kinder und ihre Eltern nehmen im "Familiy Circle" Platz, einem Bereich auf dem obersten Balkon für Familien. Der Sternkristallleuchter erlischt, und die Ouvertüre erklingt. In der Dunkelheit schimmern die Balkone golden, die Sitze samtrot. Vielleicht fühlt sich Ylvie wie im Mutterleib - jedenfalls schläft sie sofort ein. Nach dem dritten Akt beginnt Ylvie zu juchzen. Den Rest verfolge ich im Kinosaal des Opernhauses, dort gibt es eine Liveübertragung.
    Nach zwei Wochen fühlen wir uns heimisch in New York. Wir unterhalten uns mit dem polnischen Hausmeister, der Vater zweier Kinder ist, und sind Stammgäste im Maison Harlem, einem Soul-Food-Restaurant. Die zahlreichen Parks New Yorks haben wir als Wohn- und Schlafzimmer entdeckt. Im Bryant Park in Midtown Manhattan fahren wir mit Ylvie auf einem nostalgischen Kinderkarussell. Im Battery Park am Hafen picknicken wir mit Blick auf die Freiheitsstatue, und im Central Park schlummert Ylvie zu einer Mozart-Sinfonie an der Konzertmuschel Naumburg-Bandshell.
    "Ich hab das Gefühl, wenn wir zu dritt unterwegs sind, dass wir eine kleine Insel in dem Großstadtgewimmel sind. Dass wir uns sehr wohl fühlen, aber wir sind in uns geborgen – was das Gefühl in mir verstärkt: der Kinderwagen. Der hat so etwas von einer Burg, dass wir uns wie ein Schiff hier durchbewegen."
    Mit dem Baby in die Bronx?Das war nicht geplant - auch wenn die Zeiten, in denen dort Mülltonnen brannten, Vergangenheit sind. Doch dann schreibt mir eine Freundin, dass der Dokumentar-Künstler Thomas Hirschhorn ein Monument in der Bronx errichtet – eine Art Kulturpavillon fernab aller bekannten Museen New Yorks.
    Die Architektur aus teilweise besprühten Sperrholzbrettern steht auf einem Rasen zwischen Rotklinker-Hochhäusern und erinnert an eine Barke. In zusammen gezimmerten Räumen können die Leute aus der Nachbarschaft zum Beispiel im Internet surfen oder Theater spielen. Als wir ein Zimmer betreten, in dem gerade ein Malkurs stattfindet, kommt ein etwa neun Jahre altes Mädchen mit Rasta-Zöpfen auf zu zugelaufen:
    Samani lebt in einem der 15 Hochhäuser, die zur Siedlung gehören. In den Ferien ist es oft langweilig, deshalb freut sie sich über das Kulturprojekt, sie mag Malen, Kunst und Reisen erzählt sie, während sie mit Ylvies nackten Füßen spielt. Ylvie wird sich nicht bewusst daran erinnern, aber wir verleben einen unerwartet schönen Tag, und ich bin froh, dass unsere Tochter in New York nicht nur die Hochkultur an der Oper kennenlernt, sondern auch ein Stück Alltag in einem sozialen Brennpunkt.
    Den letzten Tag verbringen wir in Greenwich Village, einem Künstlerviertel in Lower Manhattan mit engen, baumbewachsenen Gassen und malerischen Brownstone-Häusern. Eine Frau Mitte 60 schiebt einen Buggy mit einem dreijährigen Jungen an dem Straßenlokal vorbei, in dem wir frühstücken. Sie bleibt stehen und winkt Ylvie auf meinem Schoß zu:
    Das Village ist wirklich ein Dorf, jeder kennt jeden, und die Bauarbeiter aus Nachbarhaus kümmern sich um Jacob, ihren Enkel, erzählt die Frau, die sich als Ellen Stone vorstellt. Ob wir neu im Viertel sind, möchte sie wissen, bevor sie sich verabschiedet. "Das hat uns gefreut, dass wir am Ende der Reise als New Yorker durchgegangen sind. Aber das Beste war natürlich, dass wir so viel Zeit mit Ylvie inmitten der Stadt der Städte verbringen konnten."