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New York jenseits der Popkultur

Vor 14 Jahren ließ Jacob Gluck das streng reglementierte Leben der orthodoxen Hasidic im New Yorker Stadtteil Willamsburg hinter sich. Heute führt er Touristengruppen durch das Viertel der Chassidim.

Von Gesine Kühne | 17.05.2012
    Akzeptabel angezogen, mit bedeckten Beinen und Armen, treffe ich Jacob Gluck an der Havemayer Street direkt unter der U-Bahn am Brooklyner Broadway. Hier beginnt der 33-Jährige seine sonntägliche Hasidic Williamsburg Tour, eine Erkundung des chassidischen Williamsburg, die sich Gluck von jedem Teilnehmer mit 38 Dollar bezahlen lässt.

    "Es ist eine dreistündige Tour zu Fuß. Ich zeige meinen Touristen die Nachbarschaft, in der ein ultrareligiöses, sehr fundamentalistisches Leben geführt wird. Hier wird versucht eine Lebensweise aus dem Osteuropa des 19. Jahrhunderts in Amerika umzusetzen. Diese Subkultur begann vor 60 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Und im Gegensatz zu anderen Einwanderern, haben die Chassidim, es geschafft ihren Lebensstil, ihre Tradition beizubehalten."

    Jacob Gluck trägt an diesem frischen Sonntag in New York Jeans und eine Funktionsjacke, seine freundlichen, wachen Augen blitzen durch schmale Brillengläser. Sein Kopf ist unbedeckt. Bis er 19 Jahre alt war, bestand seine Kleidung aus schwarzen Gewändern und mindestens der Jarmulke, die seinen Kopf teilweise bedeckte. Denn Jacob Gluck ist bei den ultraorthodoxen Chassidim aufgewachsen. Diese Bewegung ist die größte jüdische Gemeinde Amerikas. Seine Familie lebte zwar in Borough Park, ein paar Kilometer südlich von Williamsburg, Gluck fuhr aber an sechs Tagen der Woche mit dem typisch amerikanischen, knallgelben Schulbus nach Williamsburg zur Yeshiva, zur Schule für ultraorthodoxe Jungen.

    "Borough Park ist ein bisschen moderner als Williamsburg, deshalb habe ich ein bisschen mehr vom normalen amerikanischen Leben mitbekommen."

    Glucks Aufmerksamkeit gepaart mit Neugier brachte ihm schnell Zweifel am eigenen Glauben. Warum solle gerade sein Volk auserwählt sein? Was mache die ultraorthodoxen Juden zu besseren Menschen? Um die Neugier zu befriedigen und mögliche Antworten zu finden, las er immer mehr weltliche Texte.

    "Jeden Tag las ich was Neues und dachte darüber nach. Mein Glauben begann zu wackeln, ich empfand es wie ein Erdbeben. Nichts was ich bis jetzt gelernt hatte, konnte ich noch ernst nehmen. Alle Fragen, die ich bezüglich meines Lebens hatte, mussten neu beantworten werden."

    Von Glucks Familie gab es keine Antworten - nur Regeln: Dreimal am Tag beten und den Talmud studieren – als Gluck 19 Jahre alt ist, rasiert er sich den Bart und legt seine schwarzen Gewänder ab. Es ist ein Schritt raus aus der Gemeinde, aber noch lange kein Schritt in ein weltliches Leben.

    "Es ist extrem schwer, diese strenggläubige Gruppe zu verlassen. Denn, um wie im 19. Jahrhundert zu leben, haben sie sich eine Art Insel in Amerika geschaffen. Es gibt keinen unnötigen Kontakt zur Außenwelt, sodass sich niemand anpassen kann. Zum Beispiel Sprache: Ich bin mit Jiddisch groß geworden, ich sprach kein Englisch. Oder auch Popkultur: Wir hören keine weltliche Musik. Bis ich 19 war, hatte ich noch nie von Madonna zum Beispiel gehört. Ich wusste nicht, dass sie existiert, weil wir in unserer eigenen kleinen Blase leben."

    In dieser Blase sind Fernsehen, Radio, Theater, Romane und Internet verboten. Besonders das Fernsehen ist verpönt – darin liefe nur Pornographie.

    "Britney Spears war die erste Künstlerin, die ich wahrnahm. Meine Freunde zeigten mir das Video von "Hit Me Baby One More Time". Ich war komplett verwirrt, ich hatte keine Ahnung, was da passierte. Dieses katholische Mädchen mit Zöpfen. Ich wusste nicht mal, was Katholizismus ist – aber ich fand das Mädchen hübsch. Das Video hat mir gefallen."

    Backstreet Boys, Christina Aguilera, N’Sync und natürlich Britney Spears – die Popmusik von 1999 machte es Gluck leicht, sich an weltliche Musik zu gewöhnen.

    Heute – nach einem kurzen Ausflug in die US-Armee und einem Collegeabschluss in Soziologie - hat sich Jacob Gluck auch mit seiner Herkunft arrangiert.

    "Ich habe sie gehasst. In den ersten Jahren wollte ich nicht mal nach Borough Park. Ich war angeekelt von ihnen, konnte ihnen nicht ins Gesicht schauen. Weil ich sofort das Gefühl bekam, in einem Ghetto zu sein - mit rückwärtsgewandten, engstirnigen Menschen. Nach ein paar Jahren bin ich endlich darüber hinweggekommen, weil ich mich selber weiter entwickelt habe. Jetzt sind die Chassiden nur eine weitere Subkultur in der Menge an Subkulturen, die es in den USA gibt. Eine Subkultur, über die ich zufälliger Weise eine Menge weiß."

    Wissen aus dem der 33-Jährige nun ein Geschäft gemacht hat. Die Hasidic Williamsburg Tour.