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Nicaragua
"Das Land hält die Krise nicht mehr aus"

Vor einem halben Jahr wurde bei Anti-Regierungsprotesten gezielt auf Menschen geschossen, mehr als 300 Menschen starben. Präsident Daniel Ortega hat Proteste seitdem verboten, angeblich, weil sie den Frieden bedrohten. Viele seiner Weggefährten haben sich inzwischen von ihm abgewandt und der Opposition angeschlossen.

Von Anne-Katrin Mellmann | 19.10.2018
    Eine Straße in der Altstadt von Granada, Nicaragua
    "Je aussichtloser der Kampf, desto mehr verlassen das Land": Aufgrund der politischen und ökonomischen Krise sollen schon 25.000 Nicaraguaner in das benachbarte Costa Rica geflohen sein. (imago stock&people)
    Wie ausgestorben ist das historische Zentrum Granadas. Leer bleiben die sorgfältig restaurierten Kolonnaden, unter denen früher Touristen frisch gemahlenen Kaffee aus nicaraguanischem Anbau tranken. Vor der Krise kamen pro Jahr 600.000 Gäste aus der ganzen Welt in das kleine mittelamerikanische Land –fast alle besuchten die Vorzeige-Kolonialstadt am Ufer des Nicaragua-Sees. Heute kämpfen Gastronominnen wie Xiomara Diaz ums Überleben:
    "In Granada ist der Tourismus um etwa 95 Prozent zurückgegangen. Es gibt ihn praktisch nicht mehr, der Absturz ist gigantisch. Siebzig Prozent haben ihren Arbeitsplatz verloren. Ich selbst hatte 33 Mitarbeiter, aber jetzt kann ich gerade noch zehn bezahlen. Wir müssen sehr große Schritte machen, damit die Touristen wieder nach Nicaragua kommen und darauf vertrauen, dass sie hier sicher sind."
    Nach einem halben Jahr brutal bekämpfter Anti-Regierungsproteste, ist Nicaragua weit entfernt von diesem großen Schritt, der das Land befrieden könnte. Präsident Daniel Ortega bewegt sich keinen Millimeter: Forderungen seiner Gegner nach Rücktritt oder vorgezogenen Wahlen erteilt er eine Absage.
    "Sie müssen bis 2021 warten und können dann – wenn sie wollen – mit ihrer Partei an den regulären Wahlen teilnehmen. Das ist ein ziviler Kampf. Nur durch Wahlen, nur durch die Abgabe von Stimmen, kommt in Nicaragua eine Regierung an die Macht. Wenn sie eine Partei gründen wollen, sollen sie es doch tun. Es ist ihr Recht."
    Der Präsident bewegt sich keinen Millimeter
    Bei der letzten Wahl 2016 hatte Ortega die Opposition kaltgestellt, Wahlrat und Oberstes Gericht hat er mit seinen Leuten bestückt. Auch das bildete das Fundament für den allmählich gewachsenen Unmut im Land. Hinzu kamen Ortegas autokratische Regierung, Korruption, Vetternwirtschaft und Intransparenz – wie etwa, als er gegen den Protest der Bevölkerung einen Nicaragua-Kanal plante – eine Konkurrenz zum Panamakanal, die nur auf dem Papier existiert.
    Nicaraguas Präsident Daniel Ortega.
    "Wenn sie eine Partei gründen wollen, sollen sie es doch tun." Der einstige linke Revolutionär Daniel Ortega wird heute oft mit dem rechten Diktator Somoza verglichen, den er einst stürzte. (Rolando Pujol)
    Ein ungelöschter Brand im Biosphärenreservat Indio Maíz im April dieses Jahres und eine zeitgleich verkündete Sozialreform mit Rentenkürzungen brachten das Fass zum Überlaufen: Studenten, und mit ihnen später große Teile der Bevölkerung, protestierten landesweit. Gezielt wurde auf sie geschossen, um zu töten, stellten Berichte von Menschenrechtsorganisationen und der UNO fest. Mindestens 320 kamen ums Leben. Häufig sind paramilitärische Gruppen oder Sicherheitskräfte die Täter.
    Katholische Kirche kritisiert die Zustände als "teuflisch"
    Die Katholische Kirche, die sich vom einstigen Verbündeten Ortega abgewandt hat, wirft seiner Regierung Auftragsmord vor. Weihbischof Silvio Baez:
    "In Nicaragua sind wir so weit gekommen, dass Leute bezahlt werden, damit sie Menschen umbringen. Für ein paar Geldscheine sind viele zu Mördern geworden. Es ist teuflisch. Die Wurzel dieses Übels sind übermäßiger Ehrgeiz und die irrationale Anbetung des Geldes."
    Präsident Ortega ließ jegliche Proteste inzwischen verbieten, sie seien eine Bedrohung des Friedens. Wer trotzdem auf die Straße geht, muss mit hohen Gefängnisstrafen rechnen. Hunderte politische Gefangene zählt Nicaragua bereits. Ein Dialog, wie er zu Beginn des Konflikts noch stattfand, ist in den vergangenen Wochen immer unwahrscheinlicher geworden. Ortegas Gegner, ein Querschnitt der Gesellschaft, haben die Zeit genutzt um sich zu organisieren. La Unidad Nacional Azul y Blanco – Die blau-weiße nationale Einheit – nennt sich ihr neues Bündnis und es fordert Ortega zum Dialog auf. Zu den Unterstützern zählt der weltbekannte Schriftsteller Sergio Ramírez.
    Die einstige Revolutionär wird mit dem alten Diktator verglichen
    "Die heute verhärteten Positionen werden sich ändern, weil das Land die Krise nicht mehr aushält. Es muss Verhandlungen geben. Ich bin kein Hellseher und kann nicht sagen, wann das geschehen wird. Aber ich vertraue darauf, dass der Dialog ein Ausweg aus der Krise sein wird."
    Ramírez war in Zeiten der Revolution vor fast 40 Jahren Weggefährte von Daniel Ortega, sein Vizepräsident sogar. Weil Ortega aber die Ideale verriet, kündigte er ihm die Freundschaft – so wie etliche andere auch. Einen Umsturz wie 1979 wünschen sich heute viele und vergleichen Ortega mit dem Diktator Somoza. Je aussichtloser der Kampf, desto mehr verlassen das Land: Allein in das benachbarte Costa Rica sollen schon 25.000 Nicaraguaner geflohen sein.