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Nicht allein ein tschechisches Trauma

Der tschechische Journalist Josef Pazderka wagt einen differenzierten Blick auf die russische Niederschlagung des Prager Frühlings: In Interviews mit Zeitzeugen von 1968 hat er - als Erster - der damaligen Stimmung in der russischen Gesellschaft nachgespürt.

Von Silja Schultheis | 13.02.2012
    21. August 1968 - sowjetische Panzer rollen durch die Tschechoslowakei. Der Prager Frühling, der Versuch eines "Sozialismus mit menschlichem Antlitz", wird brutal niedergewalzt. Ein ganzes Land ist traumatisiert: Tausende Tschechen und Slowaken fliehen in der Folge ins Ausland, die Zurückgebliebenen verfallen in tiefe Depression. Das Verhältnis zu den Russen ist nachhaltig erschüttert.

    Wir unterschätzen die Russen gerne. Und wollen Russland in den schwärzesten Farben sehen. Und das gelingt uns auch.

    Schreibt der christdemokratische tschechische Politiker, Petr Pithart, einer der Autoren des Sammelbandes "Invasion 1968 – Die russische Sicht". Dessen Herausgeber, der 37-jährige tschechische Journalist Josef Pazderka vom öffentlich-rechtlichen Tschechischen Fernsehen, wagt einen differenzierteren Blick: In Interviews mit Zeitzeugen von 1968 hat er - als Erster - der damaligen Stimmung in der russischen Gesellschaft nachgespürt.

    Während seiner Zeit als Russland-Korrespondent in den Jahren 2006 bis 2010 sprach er mit ehemaligen Regimegegnern, Militärs und Journalisten – ergänzt werden die Interviews in dem Buch durch wissenschaftliche Studien russischer und tschechischer Historiker. Eine packende Lektüre, die zeigt: Viele russische Intellektuelle verfolgten den Prager Frühling damals mit großer Empathie, seine brutale Niederschlagung war auch für sie ein Schock. Vielerorts gab es spontanen Protest, selbst für profunde Russlandkenner in Tschechien, wie Co-Autor Tomas Glanc, ist dies eine überraschende Erkenntnis:

    "Nicht nur Intellektuelle, sondern auch Leute aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten, auch in der Provinz – in irgendeiner Fabrik, sogar im Gefängnis gab es so eine Protestaktion mit tschechoslowakischen Symbolen. Also, dass diese Proteste ganz breit geworden sind. Aber die Untersuchung von diesen Phänomenen ist wirklich erst ganz am Anfang."

    Josef Pazderka hat diesen Anfang gemacht – er möchte am tschechischen Klischee rütteln, dass die Invasion vom August 1968 allein ein tschechisches Trauma ist - und die Russen generell als Täter zu verurteilen sind.

    "Für die Tschechen ist das natürlich ziemlich bequem, die Russen als monolithische Masse von Okkupanten zu sehen, die unsere Hoffnungen auf positive Veränderungen zunichte gemacht haben. Das Buch soll dazu provozieren, sich klarzumachen, dass nicht die Russen pauschal die Inkarnation des Bösen waren und wir die armen Opfer, die Guten."

    Die Provokation ist Josef Pazderka gelungen: Seine Pionierarbeit, die auch als Dokumentarfilm im tschechischen Fernsehen ausgestrahlt wurde, wird in den tschechischen Medien breit diskutiert – und unisono als bahnbrechend gelobt: Gerade weil sich in Tschechien bislang niemand für die russischen Reaktionen auf die damalige Invasion interessiert habe, sei es Pazderka gelungen, in eine beschämende Lücke im tschechischen Geschichtsbild vorzustoßen, lobte etwa eines der größten Nachrichtenportale des Landes, idnes.cz.

    Und Petr Kolař, tschechischer Botschafter in Moskau, geht noch weiter: Pazderka habe mit seinem Buch eine "Sonde in die russische Seele" gelegt, sagte er unlängst bei der Buchpräsentation in Prag. Die tschechische Öffentlichkeit bestätigt mit ihrem Interesse diese positive Kritik: Der Band ist unter den historischen Büchern zum Bestseller geworden und musste schon zweimal nachgedruckt werden.

    Josef Pazderka (Hrsg.): "Invasion 1968: Die russische Sicht".
    Torst Verlag / Ustav pro studium totalitnich rezimu
    (Institut für das Studium totalitärer Regime), Prag 2011, 272 Seiten, 14 Euro